Bauwerk

Archives départementales d'Ille-et-Vilaine
Ibos & Vitart - Rennes (F) - 2006
Archives départementales d'Ille-et-Vilaine, Foto: Stéphane Chalmeau
Archives départementales d'Ille-et-Vilaine, Foto: Stéphane Chalmeau

Schwarze Magie

Jean-Marc Ibos und Myrto Vitart gehören zu den Architekten, die gern Anleihen bei den Schönen Künsten machen und sich an der architektonischen Avantgarde orientieren. Ihre Bauten manifestieren beides, künstlerischen Ehrgeiz und konzeptionelle Genauigkeit. Sie haben damit mehr Erfolg als andere. Denn ihre Bauten sind keine artistischen oder minimalistischen Etüden, sondern gut durchdachte, ausdrucksstarke Kom­positionen. Sie verstehen es sogar, die Gegebenheiten zu ihren Gunsten auszulegen: Bei den Bauten, die sie in die Landschaft setzen, wirkt die entschiedene Geste oft stärker als der künstlerische Anspruch.

5. April 2007 - François Lamarre
Die Archive für das Département d’Ille-et-Vilaine an der Peripherie von Rennes demonstrieren nur ein weiteres Mal, worin die Ambition und das Können des Architektenduos bestehen. Wer das Musée des Beaux-Arts in Lille kennt (Heft 35.1997), wird hier zwei ihrer Kompositionsmuster wiedererkennen: die lange Klinge des Magazingebäudes und die versenkte Ausstellungshalle. Das Magazin liegt hinter einer Glasfront und die Halle für Wechselausstellungen unter einem Glasdach.

Von weither sieht man das lang gestreckte Archivgebäude, ein dunkles Volumen, dessen reine Geometrie das Tal von Beauregard durchschneidet. In dieses Tal wurden bereits die Präfektur, der Conseil Général und der regionale Rechnungshof (1988 von Christian Hauvette erbaut) verlagert, à la longue wer­den die anderen wichtigen Institutionen des Départements folgen. Die Stadt von heute wächst darauf zu, wobei die lange Barriere des Archivgebäudes vielleicht sogar als Abschluss des Verwaltungsviertels zu lesen ist.
Das 140 Meter lange Gebäude wurde ein Stück weit von dem öffentlichen Straßennetz abgerückt, es sitzt als viergeschossige Vitrine über einem Sockel, der aus der vollkommen ebenen Asphaltdecke über dem Parkgeschoss herauswächst. Der Asphalt wirkt matt und dunkel unterhalb dieser ersten, durchgehend schwarzen, spiegelnden Schicht aus Glas und Metall, auf der das Gebäude thront. Die Magazine darüber sind hinter durchlaufenden Korridoren verborgen, die direkt hinter der Fassade liegen. Einer Reihe gleichformatiger Glasflächen, ohne Anfang und ohne Ende, schließt die Fassade. Doppelt abgerückt durch das Niemandsland des Parkdecks und den vorspringenden Sockel schlägt der lange, in Glas gewickelte Behälter eine Schneise in den bretonischen Himmel. Die Geste ist archaisch, die Haltung rätselhaft. Denn das Gebäude macht keinen Hehl aus seiner Nutzung, im Gegenteil, seine Funktion wurde in haushohen roten Lettern auf die Betonwände hinter den Fluren geschrieben. Durch das klare Glas hindurch, das in der Sonne spiegelt, werden die Buchstaben außen auf die Scheiben gestempelt, zudem wird das Volumen uneinschätzbar, weil sich die Konturen nicht deutlich gegen den Himmel abzeichnen. Die schwarze Glasfront des Sockels unterstreicht diese Wirkung, aber sie bindet den Baukörper auch an die Erde. Das Haus des Direktors, isoliert und weit abgerückt, schiebt sich wie der Läufer an einem Rechenschieber ins Bild.

In dem ebenmäßigen, dunklen Geschoss des Sockels musste der Eingang zum Problem werden, ein Rätsel gewissermaßen. Es gibt zwar einige Hinweise, die dem Besucher den Weg ins Innere versprechen, sich aber nicht gleich entschlüsseln. Ein Archiv ist eine Welt für sich, hier rot und schwarz, geheimnisvoll und vielversprechend, eine Welt hinter den Spiegeln. Das Vorfeld mit den Parkplätzen liefert den Prolog, denn die Parkplätze sind scharlachrot gerändert, und die Ziffern leuchten weiß auf dem dunklen Asphalt. Eichen aus einem al­ten Hohlweg akzentuieren das schwarze Meer und geben dem extrem Künstlichen etwas Natürliches bei, wenn auch aus längst vergangenen Zeiten. Magie liegt in der Luft.

Auch wenn es ihnen gelingt, ihre hyperrationale Komposition mit etwas Mysterium anzureichern, unterscheiden Jean-Marc Ibos und Myrto Vitart die beiden Bestandteile ihres Entwurfs mehr als genau, und die Bestandteile können un­ter­schiedlicher nicht sein: Es gibt den Bereich für das Publikum, der sich unten entfaltet, und es gibt die Magazine des Archivs, die zu stapeln waren. Zwei völlig getrennte Wegesysteme wur­den nötig. Die erste Wegeführung, eben und für die Öffent­lichkeit gedacht, ist auf den Sockelbereich beschränkt, sie ist offen, einladend und wird zusätzlich durch Innenhöfe erhellt; die zweite reduziert sich auf eine rein technische Erschließung, die tief innen im Gebäude liegt und ausschließlich die Magazine bedient. Vom technischen Zentrum im Sockel werden über dieses Erschließungssystem Aufbereitung, Registrierung und Auslieferung der Dokumente auf sechs Ebenen organisiert. Die beiden unverbundenen Raumprogramme treffen sich an einem einzigen Punkt: im Lesesaal. Der wurde folgerichtig im Zentrum der Anlage platziert.

Die Öffentlichkeit

Diese duale Organisation spiegelt die Entwicklung wider, die sich in den vergangenen Jahren in allen öffentlichen Archiven vollzogen hat. Was früher ausschließlich als Magazin angesehen wurde, hat sich zunehmend den Bürgern geöffnet, die hier historische Daten oder lokale Geschichten recherchieren. Ne­ben Forschern und Wissenschaftlern gibt es mehr und mehr Amateure, manche arbeiten nur vorübergehend in den Archiven und nur an einer einzigen Fragestellung, andere haben sich ein Thema gesetzt, dem sie über Jahre nachgehen. Aus den unzugänglichen Magazinen der Départements wurden öffentliche Dokumentationszentren mit Aufenthaltsräumen und Lesesälen, die der wachsenden Zahl der Besucher entsprechen, und sind sie erst einmal im öffentlichen Bewusstsein verankert, kommen weitere Funktionen hinzu, man erwartet Ausstel­lungen, Konferenzen, pädagogische Dienste. Im Département Bouches-du-Rhône wurde im letzten Jahr diesem neuen Typus erstmalig Rechnung getragen, und zwar mit dem Bau von Corinne Vezzoni auf dem Gelände der Euroméditerranée in Marseille. In diesem Jahr ist es das Département d’Ille-et-Vilaine, das mit dem Entwurf von Ibos und Vitart eine neue Dimension eröffnet. Der Neubau bietet genügend Platz für 60 Archivare und kann weit mehr Besucher beherbergen. Mit seiner großzügigen Dimensionierung ist das Archivgebäude gegenwärtig eine Art Trendsetter.

Herz aus Glas

Das transparente Herz des Gebäudes ist der Lesesaal mit dem Glasdach, ein Raum unter dem Himmel sozusagen. Er befindet sich zwischen zwei Höfen. Eine gläserne Wand teilt den Raum, die eine Hälfte wird als Präsenzbibliothek genutzt, die andere ist für das Studium von Originaldokumenten aus den Archiven reserviert. Unter dem Glasdach, das die beiden Säle wieder in eins fasst, gibt es 170 Arbeitsplätze. Das Mobiliar, das die Architekten eigens dafür entworfen haben und in Venetien fertigen ließen, ist fantastisch: Tische von zwölf Meter Länge, monumentale Regale und durchlaufende Bänke von vierzehn Metern. Oberflächen aus Edelstahl umschließen einen wabenartigen Kern, die Verbindungen bleiben unsichtbar. Das Zusam­menwirken der satinierten Oberflächen mit den Spiegelungen des Glases grenzt an ein Wunder. Automatisch gesteuerte Stoff­blenden regulieren das von oben einfallende Licht.
Das Dach mit seinen 700 Quadratmetern hat nur eine geringfügige Neigung, die von außen verklebten Glasflächen wer­den von sich selbst entwässernden Schüco-Rahmen gehalten, in die alle Technik versteckt wurde, um den verglasten Him­mel ungehindert in den Saal einzulassen. Die Eingangshalle da­gegen ist in Halbdunkel getaucht, sie kultiviert das Mysterium. Zwei Truhen in Edelstahl, rot gefüttert, stehen offen und stellen kostbare Dokumente aus. Höchst eindrucksvoll. Ansons­ten enthält der dunkle Sockel noch einen Ausstellungssaal von 230 Quadratmetern, die pädagogischen Dienste auf weite­ren 230 Quadratmetern und die Büros der Archivare. Alle diese Programme arrangieren sich zwischen sechs Innenhöfen, die sich in die Erde eingraben. Die Wände zu den Höfen sind von oben bis unten im gleichen Modul verglast, die Fenster, teils feststehend, teils beweglich, sind etwa einen Meter breit, genauso wie die der Magazingeschosse, sie variieren nur in der Höhe, die in den Magazinen 3,20, im Sockel 4,20 Meter beträgt. Die Breite der Scheiben ergab sich aus dem Wunsch, die Rahmen so schmal wie möglich zu halten (16 mm in der Ansicht). Auch dieses Detail wurde mit Schüco entwickelt. Die modulare Ordnung der Scheiben betont die Schichtung der Programme, vor allem das Übereinander von Auditorium (160 Plätze) und Lesesaal.

Nachdem das Konzept derart optimiert war, musste die Konstruktion nur noch folgen. Ein Betonkern, der vielleicht etwas zu kräftig geraten ist, schützt die Magazine. In den fünf Geschossen gibt es 45 Abteilungen mit je 172 Quadratmetern, die Decken sind für eine Belastung von 1700 kg/m2 ausgelegt. Je zur Hälfte wurden feststehende Regale und Rollregale vorgesehen, alles zusammen ergibt eine Stellfläche von 78 laufenden Kilometern. Zum Vergleich: Das alte Archivgebäude in der Ave­nue Jules Ferry im Zentrum von Rennes verfügte nur über 30 Kilometer Regalfläche.

Inzwischen ist man mitten im Umzug. Für später wird mit einem Zuwachs an Dokumenten von einem Kilometer pro Jahr gerechnet. Die Verwaltung hofft, dass nun auch andere Institu­tionen und Firmen den von ihr angebotenen Service nutzen und so das Archiv bereichern werden. Um dafür zu werben, ist das Archivgebäude von Ibos und Vitart bestens geeignet.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Bauwelt

Ansprechpartner:in für diese Seite: Redaktionmail[at]bauwelt.de

Akteure

Architektur

Bauherrschaft
Conseil Général d'Ille-et-Vilaine

Tragwerksplanung

Landschaftsarchitektur