Bauwerk

Casa le terrazze
Giraudi & Wettstein - Lugano (CH) - 2004

Kaskade und Sporn

Sandra Giraudi und Felix Wettstein haben mit einem Einfamilienhaus in Viganello, oberhalb von Lugano, am Hang des Monte Bré, dem einen offen, dem andern versteckt die Reverenz erwiesen: Hans Scharoun und Vittoriano Viganò.

Die «casa Vergani» gibt sich von der steilen, schmalen Stichstrasse her wie eine hoch aufragende Burg, weil man sie hier zunächst nur aus der Froschperspektive in Augenschein nehmen kann. Eine markante Strebemauer, ein Sporn, weist wie ein Wehrturm talseits (Bilder 4, 5).
Der Sporn ist der Anker des kaskadenartig über den Hang abfallenden Baus oder der Dreh- und Angelpunkt des sich über fünf Geschosse (!) in die Höhe schraubenden Hauses. Es ist diese Dichotomie, in der das Haus balanciert…
Obwohl das Haus aus dem Hang wächst (Bild 2), fügt sich die «casa Vergani» nicht in die Landschaft. Sie nimmt vielmehr einen spannungsvollen Dialog mit ihr auf, der sich aus verschiedenen Beziehungen zum Terrain entwickelt: Die Höhe des Baus leitet sich aus der steilen Topografie und den Bedingungen des Baureglements ab, das die Architekten in ebenso kreativer wie origineller Weise interpretierten. Da sich das Haus in Bauzone 2 befindet, sind eigentlich nur zwei Geschosse und eine Attika erlaubt – es sei denn, man arbeitet mit Rücksprüngen. Dann ist es möglich, 8 m hoch zu bauen, einen Rücksprung von 12 m zu konzipieren und darauf erneut ein 8 m hohes Bauvolumen zu setzen. Giraudi & Wettstein brauchten das Reglement noch nicht einmal auszureizen: Sie brachten zwei Geschosse unterirdisch unter. Blieben also noch die zwei erlaubten und die Attika, wobei das oberste und das Attikageschoss tatsächlich zurückspringen.
Der Grundriss eines gleichseitigen Dreiecks entspringt der Form der Parzelle, die er exakt nachzeichnet, die Ausrichtung des Baus aus den landschaftlichen und kontextuellen Gegebenheiten: dem auf dem Nachbargrundstück auf der Nordseite entstehenden Bau, der den Grenzabstand arg strapaziert, dem romantischen Tobel auf der Südostseite, dem Ausblick auf die in der Ebene liegende Stadt Lugano gen Westen und den San Salvatore Richtung
Süden.

Dramatisierung der Landschaft

Giraudi & Wettstein haben damit einen der beiden Schwerpunkte umgesetzt, welche die Bauherren – ein Bankier und eine Kunsthistorikerin mit ihren beiden schulpflichtigen Kindern – setzten: Sie wollten ein Haus ohne Garten, eine Stadtvilla. Und sie wünschten sich, dass die Architekten eine Dramatisierung der Landschaft erzielen würden, die das Haus auszeichnet, das sie in Portese besitzen: Vittoriano Viganòs (1919–1998) «casa scala» (Bilder 14–16, 18, 20), die dieser 1956 hoch über dem Gardasee für den Künstler und damaligen Direktor der Zeitschrift «Architecture d’Aujourd’hui», André Bloc, errichtete. Den Ausdruck der Stadtvilla generieren die Architekten mit dem erwähnten ebenso eleganten wie trutzigen Sporn. Aber auch die Eingangssituation, die eher dem Zugang zu einem Stollen gleicht (auch eine adäquate Reaktion auf die Topografie) als einer einladenden, sich öffnenden Geste eines Landhauses, entspricht der Vorgabe; ebenso der Grünraum, der das Haus touchiert, sich aber nicht in den Innenraum ergiesst, sondern nur zum Tal hin ein kleines Plateau bildet und zum südostlich angrenzenden Tobel steil abfällt.
Um die Landschaft ähnlich spektakulär in Szene zu setzen wie in Vittoriano Viganòs «casa scala», wenn diese nicht als Garten gestaltet werden soll, haben sich die Architekten das Thema der Terrasse vorgenommen, das auch in Portese eine tragende Rolle spielt. Die markante Schichtung des Baukörpers – Boden-, Deckenplatte und Geländer– bei Vittoriano ­Viganò (Bilder 15, 18) findet seine Analogie in der Übereinanderlagerung der Terrassen bei Giraudi & Wettstein (Bilder 1, 19).

«Rotierende» Terrassen, verankernder SPORN

Allerdings brechen Giraudi & Wettstein sowohl mit deren Linearität als auch mit deren eher statischer Ausformulierung. Sie haben sie dem Bau nicht einfach vorgelagert, sondern den ganzen Baukörper aus der Idee der Terrassierung entwickelt (nicht zu verwechseln mit der an Hanglagen beliebten, oft stereotypen Abtreppung).
Man könnte in dieser ausgeprägten Terrassierung sogar eine Reverenz an die landwirtschaftliche Nutzbarmachung des Bodens früherer Generationen erkennen. Und obwohl sie nicht den Höhenkurven folgt, gewinnt man diesen Eindruck ihrer je nach Niveau unterschiedlich konzipierten Ausgestaltung wegen (Bilder 8–13). Vor allem aber offenbart sich hier die zweite Inspirationsquelle: Hans Scharouns (1893–1972) 1930–1933 errichtetes «Haus Schminke» in Löbau (Bilder 6, 7).
In der Art, wie die Terrassen der drei oberen Stockwerke, die auf dem «Sockel» der beiden unteren Geschosse lagern, gegeneinander verschwenkt sind und um den Sporn zu rotieren scheinen, der optisch als Gelenk wirkt, verweisen sie auf das Löbauer Vorbild. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die geschlossenen Volumen der drei Geschosse unterschiedlich ausgebildet sind, die Aussenfläche also von Stockwerk zu Stockwerk variiert.
Gegenüber Viganò haben Giraudi & Wettstein noch mit einer anderen Analogie reagiert. Die 30 m lange Treppe, die bei Viganòs «casa scala» nicht nur Erschliessung vom See her und Promenade architecturale ist, sondern auch als Anker figuriert, findet sein Pendant in dem Sporn, der die «casa Vergani» fixiert (Bilder 14, 16). Doch der Sporn birgt nicht die ­Erschliessung.

Promenade architecturale

Und es gibt auch keine externe Verbindung wie beim «Haus Schminke». Giraudi & Wettstein verlegen die Treppenanlage ins Innere, entwickeln sie aus dem Baukörper, tragen dem markanten Höhenunterschied Rechnung und kontrastieren die horizontale Lagerung der Terrassen. Die Promenade architecturale, die sowohl bei Viganò als auch bei Scharoun den Landschaftsraum durchmisst, entwickelt sich bei der «casa Vergani» aus der innenräumlichen Komposition, die den Aussenraum aus wechselnden Perspektiven in den Fokus nimmt, changierende Raumeindrücke generiert und einen zuweilen in fast labyrinthisches Wandeln versetzt. Das bewerkstelligen die Architekten nicht nur mit der wechselnden Orientierung der Terrassen, sondern auch mit der Lichtführung: Zu den vollflächigen Verglasungen der Terrassenseiten gesellen sich Oblichtbänder, welche die dunkleren Zonen des Hauses erhellen und ihnen Tiefe und Körperlichkeit verleihen, sowie Fenster, die unvermutete Ausblicke gewähren (Bild 11).
Passend zur Eingangssituation steigt man von der «Schleuse» der Garderobe den «Stollen» hinan, erreicht das 1. Geschoss, das Keller, Waschküche und – im Spickel des Sporns – Einlegerwohnung für das Au-pair-Mädchen aufnimmt. Hangseitig führt die Treppe nun auf das Niveau der Elternschlaf- und Kinderzimmer, die auf der Rückseite mit zwei Badezimmern alimentiert sind und in der Nordwestecke Raum für ein Spielzimmer lassen. Die Terrasse ist hier nur ein schmales Band. Die aussenräumliche Grosszügigkeit liegt auf den
Niveaus 4 und 5 (Wohn-und Essraum sowie Arbeitszimmer).
Während der Wohnraum sich auf die Terrasse ergiesst, zieht sich der Essbereich in die intime Nische des in den Hang dringenden Spickels auf der Rückseite zurück. Über dem Essbereich öffnet sich der Raum zu doppelter Höhe, sodass sich das Arbeitszimmer, das von hier aus über eine schmale Treppe erklommen werden kann, wie ein Hochstand ausnimmt – ein wahres Refugium.
Obwohl die beiden unteren Geschosse als Sockel fungieren – mithin eine andere Qualität haben als die lichte Kaskade der Terrassen –, unterschieden Giraudi & Wettstein nicht in der Materialwahl. Eine Abkehr vom Beton, der das Fundament des Hauses bildet, schien ihnen wenig sinnvoll. (Obwohl man sich ja eine – als Kontrast zum «wehrhaften» Sporn – lichtere Konstruktion der Terrassen durchaus vorstellen könnte.) Ausserdem sollten sie etwas vom «Brutalismus» des Viganò-Hauses vermitteln. Im Innern dagegen gibt es einen Materialwechsel: Wohn- und Schlafräume sind mit geöltem Eichenparkett bedeckt, Erschliessung (ausser in den oberen beiden Geschossen), Sanitärzellen und Terrassen mit in zahlreichen Farben schillerndem Schiefer. Dass Treppen und Terrassen dieselbe Materialisierung ­aufweisen, verdeutlicht den architekturhistorischen Bezug (Scharoun und Viganò) zwischen diesen Elementen und verwischt die Grenzen zwischen innen und aussen.

Dichotomische Interpretation

Giraudi & Wettstein haben das «Haus Schminke» und die «casa scala» in einen dichotomischen Dialog eingesponnen, einen Wechselgesang komponiert: Die Horizontalität und Linearität Viganòs wird mit der vertikalen Entwicklung und der rotierenden Stapelung der Terrassen à la Schminke verknüpft. Die optische Leichtigkeit der Konstruktion des Schminke-Hauses wird mit dem Brutalismus Viganòs gekoppelt. Die strenge Geometrie Viganòs wird mit der verspielten Scharouns zur Expressivität des Dreiecks «verschmolzen». Die Promenade architecturale entfaltet sich aus der Synthese der komplexen räumlichen Komposition: der Beziehung zwischen innerer linearer Wegführung und äusserer bewegter Terrassierung. Und: Die «casa scala» wird zur «casa le terrazze».

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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