Bauwerk
Théâtre & Auditorium de Poitiers (TAP)
João Luís Carrilho da Graça - Poitiers (F) - 2008
Gelbe Kultur-Laternen
Ein Theaterneubau wirft Licht auf die kulturelle Dynamik einer Provinzstadt
Auf den ersten Blick wirkt Poitiers etwas verschlafen. Doch der in der französischen Provinzhauptstadt soeben eröffnete Theaterneubau von João Luís Carrilho da Graça zeugt von kulturellem Engagement.
14. November 2008 - Marc Zitzmann
«Die kleinste der französischen Grossstädte» wird Poitiers von seinen Bewohnern gern genannt. Echten Grossstädtern – und erst recht Parisern – mutet die Hauptstadt der westlichen Region Poitou-Charentes freilich auf den ersten Blick wie der Inbegriff der Provinzkapitale an. Ein Dekor wie für ein Sittengemälde von Chabrol oder von Simenon (der hier mehrere Romane angesiedelt hat). Betuchte, die es sicher auch gibt, treiben in diesem Reich des Kleinbürgertums die Diskretion bis zur Unsichtbarkeit. Und auch Bettler setzen allenfalls pittoreske Tupfer ins behäbig-behagliche Gesamtbild: etwa jene vermummte Alte, die vor der besten Pâtisserie am Ort, Bajard, sittsam am Rand der Vitrine zusammengekauert ein Schild vor sich her hält – ein Motiv für Murillo.
Wege zur Baukunst
Provinziell mutet zunächst das Stadtbild an. Wirbt die staatliche Präfektur mit einem Ziegelbau im Louis-XIII-Stil um Bürgernähe, so bringt das Rathaus am andern Ende der Rue Victor Hugo im stolzen Renaissance-Gewand das Selbstbewusstsein der Bürger zum Ausdruck. Dazwischen liegt hinter einem ehemaligen Kirchenportal das Musée Rupert de Chièvres, in welchem eine Enfilade von schlecht beleuchteten Salons teils fade, teils pikante Werke von Kleinmeistern aus Flandern, Holland, Italien und Frankreich birgt. Etwas angestaubt wirkt auch der Stadtpark mit seinen schnurgeraden Alleen, die tadellos gestutzte Bäume säumen, mit dem nur in Anwesenheit des Gärtners zugänglichen Jardin de Rocaille und dem englischen Garten, in dem Ziegen meckern und Aras das Gefieder spreizen.
Die Stadt lässt sich mittels dreier vorgezeichneter Routen erkunden, die blaue, gelbe beziehungsweise rote Linien am Strassenrand markieren. Das Bauerbe von Poitiers ist diesen Parcours entlang mustergültig ausgeschildert. Das gilt nicht nur für die 2003 renovierte Eglise Notre-Dame-la-Grande, ein Meisterwerk der Romanik, für die gotische Cathédrale Saint-Pierre mit ihrer im Originalzustand erhaltenen Clicquot-Orgel (1791) und für mehrfach um- und ausgebaute Sehenswürdigkeiten wie die Kirchen Sainte-Radegonde, Saint-Hilaire, Saint-Jean-de-Montierneuf sowie den Justizpalast mit seinem Prunksaal aus der Zeit von Eleonore von Aquitanien, der «Königin der Troubadoure». Es gilt auch für so manches Fachwerkhaus oder Hôtel particulier, auf die gut geschriebene Texttafeln den Blick lenken.
Allerdings beschleicht einen beim Promenieren bald ein Gefühl der Fremdheit. Abseits der Fussgängerzonen im Zentrum wirken grosse Teile der Stadt am Wochenende wie ausgestorben. Im Jardin des Plantes irrt man mutterseelenallein zwischen Blumenkompositionen umher. Auf der Place de la Liberté ist nicht einmal ein Vogelzwitschern zu hören, nur dann und wann der Fall eines Herbstblatts. Noch seltsamer wird die Besichtigungstour, setzt man sich einen der Kopfhörer auf die Ohren, die im Touristenamt ausgeliehen werden. Die Berliner Künstlerin Christina Kubisch verwandelt elektromagnetische Ströme aus der Umgebung der Spaziergänger in Klänge – auf einmal raunt und rauscht die Stadt ganz anders.
Architektonische Fata Morgana
Und plötzlich steht, wie eine minimalistisch-monumentale Fata Morgana, das Théâtre & Auditorium de Poitiers (TAP) vor einem. Der von dem Portugiesen João Luís Carrilho da Graça konzipierte Komplex besteht aus zwei Kuben, in deren Milchglas-Fassaden sich die Umgebung spiegelt. Zwei enigmatische Körper, die sich dank ihren Volumen, die jene der Nachbargebäude zu abstrahieren scheinen, und dank ihrer Chamäleonhaut zwanglos in die mausgraue Rue de la Marne einfügen. Erst aus der Nähe erkennt man, dass die Betonwände hinter den vorgehängten Glasfassaden in frisch-freches Gelb getaucht sind. Werden diese nachts angestrahlt, vertreiben in der nur schwach erleuchteten Stadt zwei zitronenfarben glühende Kultur-Laternen die Schatten des Provinzlertums. Geplant sind auch Videoprojektionen – etwa der ersten Minuten der Spektakel, die im Innern gegeben werden – auf bis zu 270 Quadratmetern Fassadenfläche.
Im Innern geleitet eine breite Treppe zu einem Foyer hinab, das links zum Auditorium führt und rechts zum Theatersaal. Das helle Ahornparkett, die weissen Wände und Decken sowie die weitgehende Verglasung der öffentlichen Bereiche, die auf eine Esplanade oder auf Patios hinausblicken, sorgen für Lichtfülle ohne Grellheit. Die Strenge des Linienspiels wird temperiert durch zurückhaltende Asymmetrien, grazil geschwungene Designermöbel oder Lampen aus Milchglas, die wie Luftballons an der Decke schweben. Die Riesenlettern der Signaletik machen auf einer Wand des Künstlerfoyers gar Wortmusik: «badaboum BUMZINNNNGGG»!
Der Theatersaal bietet Platz für 722 Zuschauer. Seine Farben sind gedämpft: Schokoladebraun für die Wände, Rostrot für die Samtpolster der Sessel. Im Auditorium (1021 Plätze) kontrastieren das Mandelgrün der Sitze und das helle Beige der Holzdecke mit dem tiefen Schwarz der Seitenwände. Beide Säle lassen sich flexibel umgestalten; der Theatersaal verfügt zudem über einen Graben, der bis zu 45 Musiker aufzunehmen vermag. Wie Aufführungen am Eröffnungswochenende Mitte Oktober zeigten, verdient der Akustiker Daniel Commins für das Theater ungeteiltes Lob. Die ersten Eindrücke von dem in der erprobten Form einer Schuhschachtel gestalteten Auditorium sind durchmischter. Im vorderen Teil des Parketts und in den Galerien wirkt die Akustik sehr naturgetreu: Weder umhüllend noch artifiziell schmeichelhaft, gibt sie die Farben des Klangs und seine räumliche Verortung quasi ungeschminkt wieder. Im hinteren Teil des Parketts und auf dem Balkon dagegen wird der Klang etwas flau und monochrom.
Mehrspartenhaus mit Mehrwert
Hier bedarf es wohl noch der Feinregulierung. Doch schon jetzt zählt das Auditorium neben jenem in Dijon und dem Arsenal in Metz zu den wenigen französischen Konzertsälen, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu genügen vermögen – in Metropolen wie Bordeaux oder Paris sollen solche Infrastrukturen erst 2010 beziehungsweise 2012 eröffnet werden. Wie Denis Garnier, der Direktor des TAP, im Gespräch ausführt, beruht der Bau des 56 Millionen Euro teuren Komplexes auf der Einsicht, dass eine «kleine Grossstadt» wie Poitiers separate Institutionen für Tanz, Theater und Musik weder finanzieren noch füllen kann. Das Programm des TAP bietet also von allem etwas: sogar Humor, Akrobatik und, im ehemaligen Stadttheater neben dem Rathaus, Kino. Ein bunter Mix, gewiss. Aber gleichzeitig darf das 89 000-Seelen-Städtchen auf «artistes en résidence» wie Philippe Herreweghe und sein Orchestre des Champs-Elysées oder auf Gastspiele von Schöpfern wie Carolyn Carlson und Romeo Castellucci stolz sein.
Poitiers – Inbegriff der Provinzkapitale? Neben der Konzertserie «Jazz à Poitiers» und dem Confort moderne, einem in früheren Lagerhallen angesiedelten Verein für avantgardistische Kunst und Musik, straft die Eröffnung des TAP jetzt die Vorurteile grossschnäuziger Grossstädter Lügen.
Wege zur Baukunst
Provinziell mutet zunächst das Stadtbild an. Wirbt die staatliche Präfektur mit einem Ziegelbau im Louis-XIII-Stil um Bürgernähe, so bringt das Rathaus am andern Ende der Rue Victor Hugo im stolzen Renaissance-Gewand das Selbstbewusstsein der Bürger zum Ausdruck. Dazwischen liegt hinter einem ehemaligen Kirchenportal das Musée Rupert de Chièvres, in welchem eine Enfilade von schlecht beleuchteten Salons teils fade, teils pikante Werke von Kleinmeistern aus Flandern, Holland, Italien und Frankreich birgt. Etwas angestaubt wirkt auch der Stadtpark mit seinen schnurgeraden Alleen, die tadellos gestutzte Bäume säumen, mit dem nur in Anwesenheit des Gärtners zugänglichen Jardin de Rocaille und dem englischen Garten, in dem Ziegen meckern und Aras das Gefieder spreizen.
Die Stadt lässt sich mittels dreier vorgezeichneter Routen erkunden, die blaue, gelbe beziehungsweise rote Linien am Strassenrand markieren. Das Bauerbe von Poitiers ist diesen Parcours entlang mustergültig ausgeschildert. Das gilt nicht nur für die 2003 renovierte Eglise Notre-Dame-la-Grande, ein Meisterwerk der Romanik, für die gotische Cathédrale Saint-Pierre mit ihrer im Originalzustand erhaltenen Clicquot-Orgel (1791) und für mehrfach um- und ausgebaute Sehenswürdigkeiten wie die Kirchen Sainte-Radegonde, Saint-Hilaire, Saint-Jean-de-Montierneuf sowie den Justizpalast mit seinem Prunksaal aus der Zeit von Eleonore von Aquitanien, der «Königin der Troubadoure». Es gilt auch für so manches Fachwerkhaus oder Hôtel particulier, auf die gut geschriebene Texttafeln den Blick lenken.
Allerdings beschleicht einen beim Promenieren bald ein Gefühl der Fremdheit. Abseits der Fussgängerzonen im Zentrum wirken grosse Teile der Stadt am Wochenende wie ausgestorben. Im Jardin des Plantes irrt man mutterseelenallein zwischen Blumenkompositionen umher. Auf der Place de la Liberté ist nicht einmal ein Vogelzwitschern zu hören, nur dann und wann der Fall eines Herbstblatts. Noch seltsamer wird die Besichtigungstour, setzt man sich einen der Kopfhörer auf die Ohren, die im Touristenamt ausgeliehen werden. Die Berliner Künstlerin Christina Kubisch verwandelt elektromagnetische Ströme aus der Umgebung der Spaziergänger in Klänge – auf einmal raunt und rauscht die Stadt ganz anders.
Architektonische Fata Morgana
Und plötzlich steht, wie eine minimalistisch-monumentale Fata Morgana, das Théâtre & Auditorium de Poitiers (TAP) vor einem. Der von dem Portugiesen João Luís Carrilho da Graça konzipierte Komplex besteht aus zwei Kuben, in deren Milchglas-Fassaden sich die Umgebung spiegelt. Zwei enigmatische Körper, die sich dank ihren Volumen, die jene der Nachbargebäude zu abstrahieren scheinen, und dank ihrer Chamäleonhaut zwanglos in die mausgraue Rue de la Marne einfügen. Erst aus der Nähe erkennt man, dass die Betonwände hinter den vorgehängten Glasfassaden in frisch-freches Gelb getaucht sind. Werden diese nachts angestrahlt, vertreiben in der nur schwach erleuchteten Stadt zwei zitronenfarben glühende Kultur-Laternen die Schatten des Provinzlertums. Geplant sind auch Videoprojektionen – etwa der ersten Minuten der Spektakel, die im Innern gegeben werden – auf bis zu 270 Quadratmetern Fassadenfläche.
Im Innern geleitet eine breite Treppe zu einem Foyer hinab, das links zum Auditorium führt und rechts zum Theatersaal. Das helle Ahornparkett, die weissen Wände und Decken sowie die weitgehende Verglasung der öffentlichen Bereiche, die auf eine Esplanade oder auf Patios hinausblicken, sorgen für Lichtfülle ohne Grellheit. Die Strenge des Linienspiels wird temperiert durch zurückhaltende Asymmetrien, grazil geschwungene Designermöbel oder Lampen aus Milchglas, die wie Luftballons an der Decke schweben. Die Riesenlettern der Signaletik machen auf einer Wand des Künstlerfoyers gar Wortmusik: «badaboum BUMZINNNNGGG»!
Der Theatersaal bietet Platz für 722 Zuschauer. Seine Farben sind gedämpft: Schokoladebraun für die Wände, Rostrot für die Samtpolster der Sessel. Im Auditorium (1021 Plätze) kontrastieren das Mandelgrün der Sitze und das helle Beige der Holzdecke mit dem tiefen Schwarz der Seitenwände. Beide Säle lassen sich flexibel umgestalten; der Theatersaal verfügt zudem über einen Graben, der bis zu 45 Musiker aufzunehmen vermag. Wie Aufführungen am Eröffnungswochenende Mitte Oktober zeigten, verdient der Akustiker Daniel Commins für das Theater ungeteiltes Lob. Die ersten Eindrücke von dem in der erprobten Form einer Schuhschachtel gestalteten Auditorium sind durchmischter. Im vorderen Teil des Parketts und in den Galerien wirkt die Akustik sehr naturgetreu: Weder umhüllend noch artifiziell schmeichelhaft, gibt sie die Farben des Klangs und seine räumliche Verortung quasi ungeschminkt wieder. Im hinteren Teil des Parketts und auf dem Balkon dagegen wird der Klang etwas flau und monochrom.
Mehrspartenhaus mit Mehrwert
Hier bedarf es wohl noch der Feinregulierung. Doch schon jetzt zählt das Auditorium neben jenem in Dijon und dem Arsenal in Metz zu den wenigen französischen Konzertsälen, die den Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu genügen vermögen – in Metropolen wie Bordeaux oder Paris sollen solche Infrastrukturen erst 2010 beziehungsweise 2012 eröffnet werden. Wie Denis Garnier, der Direktor des TAP, im Gespräch ausführt, beruht der Bau des 56 Millionen Euro teuren Komplexes auf der Einsicht, dass eine «kleine Grossstadt» wie Poitiers separate Institutionen für Tanz, Theater und Musik weder finanzieren noch füllen kann. Das Programm des TAP bietet also von allem etwas: sogar Humor, Akrobatik und, im ehemaligen Stadttheater neben dem Rathaus, Kino. Ein bunter Mix, gewiss. Aber gleichzeitig darf das 89 000-Seelen-Städtchen auf «artistes en résidence» wie Philippe Herreweghe und sein Orchestre des Champs-Elysées oder auf Gastspiele von Schöpfern wie Carolyn Carlson und Romeo Castellucci stolz sein.
Poitiers – Inbegriff der Provinzkapitale? Neben der Konzertserie «Jazz à Poitiers» und dem Confort moderne, einem in früheren Lagerhallen angesiedelten Verein für avantgardistische Kunst und Musik, straft die Eröffnung des TAP jetzt die Vorurteile grossschnäuziger Grossstädter Lügen.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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