Bauwerk
Ørestad Gymnasium
3XN - Kopenhagen (DK) - 2006
Experiment Schule
Die dänische Gymnasialreform verlangt von neuen Schulbauten Offenheit und Flexibilität. Im neuen Kopenhagener Quartier Ørestad wurden diese Anforderungen in ein vielschichtiges System mit fließenden Räumen, scheinbar schwebenden Lerninseln und geschwungenen Treppenlandschaften übersetzt. Entstanden ist ein Gebäude, das Spaß macht und die Schüler fördert, indem es sie fordert.
3. Februar 2009 - Ulrich Höhns
Das Ørestad Gymnasium liegt im Mittelpunkt eines Kopenhagener Stadtteils, der seit einigen Jahren auf freiem Gelände südlich der Innenstadt entsteht. Dieser 600 Meter breite und fünf Kilometer lange urbane Streifen ist eine mit Solitären unterschiedlichster Formen und Qualität besetzte Bandstadt, in der bald 80 000 Menschen arbeiten und studieren und 20 000 wohnen sollen. Der zentrale, weitgehend fertiggestellte Abschnitt »Ørestad City«, in dem sich die Schule befindet, wird von einem großen Einkaufszentrum und der weithin sichtbaren »landmark« des eleganten Ferring-Hochhauses von Henning Larsen Architects beherrscht. Die dritte an dieser Stelle im öffentlichen Raum wirksame Komponente ist die Hochtrasse der Metrolinie 1, die das Rückgrat von Ørestad bildet. Sie verläuft direkt vor der Schule, eine Station liegt in unmittelbarer Nähe. Die in kurzer Abfolge verkehrenden Bahnen verbinden Ørestad innerhalb weniger Minuten mit dem Kopenhagener Zentrum. Sie sind das allgegenwärtige Metronom dieser Handtuchstadt, verhelfen ihr zu einer gewissen metropolitanen Anmutung – und sind die Voraussetzung für ihre Funktionsfähigkeit.
Das Architekturbüro 3XN – das Kürzel steht für dreimal Nielsen – wurde 1986 in Århus gegründet und ist heute eines der erfolgreichsten dänischen Architekturbüros mit einer beeindruckenden Werkliste herausragender nationaler und internationaler Bauten. In Deutschland wurden die Architekten 1998 mit dem Bau der dänischen Botschaft in Berlin innerhalb des Ensembles der »Nordischen Botschaften« bekannt. Ihr fünfgeschossiges Gymnasium am Ørestad Boulevard an der Ecke Arne Jacobsens Allé, die hier leider als trister Wendehammer endet, reiht sich in die Struktur der Einzelbauten ein. Die Schüler kommen wie die Angestellten nebenan in ihre »Arbeitswelt«. Einer der Unterschiede zu den Nachbarn besteht darin, dass dieses Haus sein Äußeres verändern kann. Farbige, gläserne Senkrechtlamellen vor der eigentlichen Fassade erzeugen das Bild freundlich offenstehender Fenster und geben dem weißen Kubus etwas Spielerisches. Nur an der nördlichen und streckenweise auch an der östlichen Fassade verharren sie unbeweglich. Werden sie vor die Fenster gedreht, so beruhigt sich der Ausdruck des Hauses. Die mit Chiffren bedruckten Lamellen schließen dann fast plan mit den weißen Brüstungen ab, und die große Form wirkt geschlossen. Nur die etwas zurückgesetzte Verglasung der Eingangshalle und der darüber liegende hausbreite Balkon im vierten Obergeschoss zeichnen sich als markante Einschnitte ab. Die elegante Wirkung des überhohen, an drei Seiten raumhoch verglasten Erdgeschosses, auf dem der Kubus zu schweben scheint, geht an der Rückseite jedoch jäh verloren, denn hier kommt es zu einer Kollision mit einem ungestalteten flachen Parkhaus mit dem anmaßenden Namen »Kay Fisker« (der bedeutendste dänische Wohnungsbau-Architekt, 1893–1965). Ein Teil dessen Flachdaches, gegliedert durch ¬Entlüfter und Lichtöffnungen, dient der Schule als Freifläche. Auch das Flachdach der Schule mit seinen zylindrischen Aufbauten ist auf einem hölzernen Steg zugänglich.
Offenes System
Der weite, helle und luftige Innenraum der Schule, der vom Unter- bis zum vierten Obergeschoss reicht, entschädigt für alle unzulänglichen Kleinigkeiten. Das Erlebnis dieser offenen, großen Hohlform mit ihrer zentralen Treppe und den vielen Galerien ist überwältigend, aber nicht einschüchternd.
Die Orientierung im gesamten Haus ist erstklassig, und gleichzeitig entsteht Entdeckerfreude, denn es gibt keine Standardräume, die sich von Stockwerk zu Stockwerk wiederholen, stattdessen eine unglaubliche Vielfalt von Passagen, Öffnungen, Teilräumen und Nischen. Die Drehung einer jeden Ebene gegen die nächste unter Beibehalt nur weniger konstruktiv notwendiger Konstanten wie kreisrunder Fluchttreppen und Sanitärbereiche führt zu einem selten gesehenen Abwechslungsreichtum der Räume, der absolut nichts mit der statisch wirkenden Außenhülle des Hauses gemeinsam hat. Die vor vier Jahren entwickelte dänische Schulreform mit ihren Forderungen nach Offenheit, Transparenz und Eigenverantwortlichkeit für interdisziplinäres, einem Studium vergleichbaren Lernen in weitgehend hierarchiefreien Räumen findet hier ihren ersten baulichen Ausdruck. In ihm spiegelt sich das Raum gewordene Selbstverständnis eines liberalen, wohlhabenden Staates wider, der seinen Schülern bis dahin ungeahnte Möglichkeiten und Freiheiten eröffnet. Die Schule und ihre Architekten sind in Dänemark deshalb berühmt. Viele Schüler finden es nach eigener Aussage »cool«, hier zu lernen, und nehmen dafür weite Wege auf sich. Etwas mehr als 1000 Schüler gibt es, für die 110 Lehrer da sind. Die Zahlen verblüffen, denn die subjektive Wahrnehmung dieses Raumwunders erklärt nicht, wie dieses Haus fast 1200 Menschen Platz bieten kann. Es gibt pro Stockwerk nur wenige abgeschlossene Gruppenräume, etwa für die Fachklassen, die wie Meisterkabinen hinter Glas und Holz an die Außenwände des Hauses gerückt sind, oder einige hermetisch verschlossene, kreisrunde Räume mit »Ruheinseln« auf ihren »Dächern«, auf denen Schüler in den Pausen auf Sitzsäcken »abhängen«, gern mit dem Laptop auf dem Schoß. Jeden Tag finden große Wanderungsbewegungen durch das Haus statt, und der Computer – die Schule ist bis in den letzten Winkel mit iMacs und iBooks ausgestattet, die auch der schnellen Orientierung auf der Suche nach dem richtigen Kurs und Raum dienen – ist allgegenwärtig. Jeder offene Raum und Teilraum dient dem Unterricht in kleinen und größeren Gruppen, mit und ohne Lehrer. Einige Schüler sind darüber nicht so glücklich, weil ihnen dann doch die Orientierung fehlt und der Lärm trotz schallschluckender Oberflächen einiger Ausbaumaterialien die Konzentration erschwert.
Die vor gut einem Jahr eröffnete Schule ist an vielen Stellen bereits abgenutzt und pflegebedürftig. Der schwarze Industriefußboden, das helle Holz der Treppen oder die weißen Wände entlang der Hauptwege zeigen Spuren der Beanspruchung und sollen vielleicht auch nicht von ewigem Bestand sein. Der große zentrale Innenraum mit Mensa und Auditorium im Erd- und Untergeschoss ist auf allen Ebenen zugleich auch ein Außenraum, der nachlässiger behandelt wird als die kleineren Innenräume. Abgegessene Teller und benutztes Besteck finden sich überall, der spätnachmittägliche Zustand der Toiletten erinnert an Autobahnraststätten während der Urlaubszeit.
Was den Energiehaushalt der Schule betrifft, so sind die Aussagen unpräzise. Dies ist offenbar (noch) kein wirkliches Thema für die gegenwärtige dänische Architektur. Das Haus ist an das Fernwärmenetz angeschlossen, die Wärmedämmung entspricht dem nationalen Standard, und natürlich schützen die drehbaren Glaslamellen vor der Sonne, die in Dänemark aber nicht so heiß und immer willkommen ist. Im Grunde geht es bei diesen Elementen nicht nur um Fragen der Energieeffizienz, sondern auch um den Spaß am veränderlichen Dekor der Außenhaut mit einer Vielzahl von Lichtbrechungen und Farbspielen.
Der hohe inhaltliche Anspruch und der freie Geist dieser dank ihrer Offenheit wegweisenden Schule, die ihren Benutzern ein unvergleichliches und prägendes Raumerlebnis bietet, sind die eigentlichen Grundlagen für ihre nachhaltige Wirkung.
Das Architekturbüro 3XN – das Kürzel steht für dreimal Nielsen – wurde 1986 in Århus gegründet und ist heute eines der erfolgreichsten dänischen Architekturbüros mit einer beeindruckenden Werkliste herausragender nationaler und internationaler Bauten. In Deutschland wurden die Architekten 1998 mit dem Bau der dänischen Botschaft in Berlin innerhalb des Ensembles der »Nordischen Botschaften« bekannt. Ihr fünfgeschossiges Gymnasium am Ørestad Boulevard an der Ecke Arne Jacobsens Allé, die hier leider als trister Wendehammer endet, reiht sich in die Struktur der Einzelbauten ein. Die Schüler kommen wie die Angestellten nebenan in ihre »Arbeitswelt«. Einer der Unterschiede zu den Nachbarn besteht darin, dass dieses Haus sein Äußeres verändern kann. Farbige, gläserne Senkrechtlamellen vor der eigentlichen Fassade erzeugen das Bild freundlich offenstehender Fenster und geben dem weißen Kubus etwas Spielerisches. Nur an der nördlichen und streckenweise auch an der östlichen Fassade verharren sie unbeweglich. Werden sie vor die Fenster gedreht, so beruhigt sich der Ausdruck des Hauses. Die mit Chiffren bedruckten Lamellen schließen dann fast plan mit den weißen Brüstungen ab, und die große Form wirkt geschlossen. Nur die etwas zurückgesetzte Verglasung der Eingangshalle und der darüber liegende hausbreite Balkon im vierten Obergeschoss zeichnen sich als markante Einschnitte ab. Die elegante Wirkung des überhohen, an drei Seiten raumhoch verglasten Erdgeschosses, auf dem der Kubus zu schweben scheint, geht an der Rückseite jedoch jäh verloren, denn hier kommt es zu einer Kollision mit einem ungestalteten flachen Parkhaus mit dem anmaßenden Namen »Kay Fisker« (der bedeutendste dänische Wohnungsbau-Architekt, 1893–1965). Ein Teil dessen Flachdaches, gegliedert durch ¬Entlüfter und Lichtöffnungen, dient der Schule als Freifläche. Auch das Flachdach der Schule mit seinen zylindrischen Aufbauten ist auf einem hölzernen Steg zugänglich.
Offenes System
Der weite, helle und luftige Innenraum der Schule, der vom Unter- bis zum vierten Obergeschoss reicht, entschädigt für alle unzulänglichen Kleinigkeiten. Das Erlebnis dieser offenen, großen Hohlform mit ihrer zentralen Treppe und den vielen Galerien ist überwältigend, aber nicht einschüchternd.
Die Orientierung im gesamten Haus ist erstklassig, und gleichzeitig entsteht Entdeckerfreude, denn es gibt keine Standardräume, die sich von Stockwerk zu Stockwerk wiederholen, stattdessen eine unglaubliche Vielfalt von Passagen, Öffnungen, Teilräumen und Nischen. Die Drehung einer jeden Ebene gegen die nächste unter Beibehalt nur weniger konstruktiv notwendiger Konstanten wie kreisrunder Fluchttreppen und Sanitärbereiche führt zu einem selten gesehenen Abwechslungsreichtum der Räume, der absolut nichts mit der statisch wirkenden Außenhülle des Hauses gemeinsam hat. Die vor vier Jahren entwickelte dänische Schulreform mit ihren Forderungen nach Offenheit, Transparenz und Eigenverantwortlichkeit für interdisziplinäres, einem Studium vergleichbaren Lernen in weitgehend hierarchiefreien Räumen findet hier ihren ersten baulichen Ausdruck. In ihm spiegelt sich das Raum gewordene Selbstverständnis eines liberalen, wohlhabenden Staates wider, der seinen Schülern bis dahin ungeahnte Möglichkeiten und Freiheiten eröffnet. Die Schule und ihre Architekten sind in Dänemark deshalb berühmt. Viele Schüler finden es nach eigener Aussage »cool«, hier zu lernen, und nehmen dafür weite Wege auf sich. Etwas mehr als 1000 Schüler gibt es, für die 110 Lehrer da sind. Die Zahlen verblüffen, denn die subjektive Wahrnehmung dieses Raumwunders erklärt nicht, wie dieses Haus fast 1200 Menschen Platz bieten kann. Es gibt pro Stockwerk nur wenige abgeschlossene Gruppenräume, etwa für die Fachklassen, die wie Meisterkabinen hinter Glas und Holz an die Außenwände des Hauses gerückt sind, oder einige hermetisch verschlossene, kreisrunde Räume mit »Ruheinseln« auf ihren »Dächern«, auf denen Schüler in den Pausen auf Sitzsäcken »abhängen«, gern mit dem Laptop auf dem Schoß. Jeden Tag finden große Wanderungsbewegungen durch das Haus statt, und der Computer – die Schule ist bis in den letzten Winkel mit iMacs und iBooks ausgestattet, die auch der schnellen Orientierung auf der Suche nach dem richtigen Kurs und Raum dienen – ist allgegenwärtig. Jeder offene Raum und Teilraum dient dem Unterricht in kleinen und größeren Gruppen, mit und ohne Lehrer. Einige Schüler sind darüber nicht so glücklich, weil ihnen dann doch die Orientierung fehlt und der Lärm trotz schallschluckender Oberflächen einiger Ausbaumaterialien die Konzentration erschwert.
Die vor gut einem Jahr eröffnete Schule ist an vielen Stellen bereits abgenutzt und pflegebedürftig. Der schwarze Industriefußboden, das helle Holz der Treppen oder die weißen Wände entlang der Hauptwege zeigen Spuren der Beanspruchung und sollen vielleicht auch nicht von ewigem Bestand sein. Der große zentrale Innenraum mit Mensa und Auditorium im Erd- und Untergeschoss ist auf allen Ebenen zugleich auch ein Außenraum, der nachlässiger behandelt wird als die kleineren Innenräume. Abgegessene Teller und benutztes Besteck finden sich überall, der spätnachmittägliche Zustand der Toiletten erinnert an Autobahnraststätten während der Urlaubszeit.
Was den Energiehaushalt der Schule betrifft, so sind die Aussagen unpräzise. Dies ist offenbar (noch) kein wirkliches Thema für die gegenwärtige dänische Architektur. Das Haus ist an das Fernwärmenetz angeschlossen, die Wärmedämmung entspricht dem nationalen Standard, und natürlich schützen die drehbaren Glaslamellen vor der Sonne, die in Dänemark aber nicht so heiß und immer willkommen ist. Im Grunde geht es bei diesen Elementen nicht nur um Fragen der Energieeffizienz, sondern auch um den Spaß am veränderlichen Dekor der Außenhaut mit einer Vielzahl von Lichtbrechungen und Farbspielen.
Der hohe inhaltliche Anspruch und der freie Geist dieser dank ihrer Offenheit wegweisenden Schule, die ihren Benutzern ein unvergleichliches und prägendes Raumerlebnis bietet, sind die eigentlichen Grundlagen für ihre nachhaltige Wirkung.
Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung
Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkel