Bauwerk
Warenhaus Selfridges
Future Systems - Birmingham (GB) - 2003
Ein brodelnder Hexenkessel des Konsums im Paillettenkostüm
Future Systems verschafft Birmingham ein architektonisches Wahrzeichen
Tausende von schimmernden Aluminiumscheiben bilden die Aussenhaut des Warenhauses Selfridges in Birmingham. Nach kleineren Projekten ist dem Londoner Architektenteam Future Systems mit einem der spektakulärsten zeitgenössischen Bauten in England endlich der wirklich grosse Wurf gelungen.
1. Dezember 2003 - Hubertus Adam
Birmingham besitzt ein Problem mit seinem Image: Es gibt für überzeugte Londoner ebenso wie für Englandreisende eigentlich keinen einsichtigen Grund, die zweitgrösste britische Stadt aufzusuchen. Birmingham, die Millionenstadt, einst Zentrum der britischen Schwerindustrie, leidet seit Jahrzehnten unter dem wirtschaftlichen Strukturwandel. Das Stadtbild ist wenig attraktiv: kein Schloss, kein Fluss, kein Hafen - nichts also, was eine unverwechselbare Atmosphäre garantierte. Und die Züge, die Birmingham von London Euston aus in zweistündiger Fahrt ansteuern, sind überteuert und oft verspätet.
Birminghams Hauptbahnhof, die New Street Station, lässt sich als Resultat jener Geringschätzung verstehen, welche Stadtplaner in Grossbritannien lange Jahre gegenüber dem Schienenverkehr an den Tag legten. Denn der Bahnhof ist im Gefüge der Stadt unsichtbar, und der unterirdische Haltepunkt besitzt den Charme einer verwahrlosten U-Bahn-Station. Über die Rolltreppen gelangt man auch nicht in eine Empfangshalle, sondern in ein Shopping Centre, um dann irgendwo einen Ausgang zur Innenstadt zu finden. Allerdings ergiesst sich der grössere Menschenstrom nicht in diese Richtung, sondern nach Osten, wo ein noch grösserer Einkaufszentrum anschliesst, das «Bull Ring Centre». An seinem östlichen Ende ist mit der Birminghamer Filiale des Londoner Warenhauses Selfridges eines der spektakulärsten Werke der zeitgenössischen britischen Architektur entstanden.
Schon an der letztjährigen Architekturbiennale in Venedig hatte das Projekt des in London ansässigen Büros Future Systems Aufsehen erregt. Beinahe massstabslos erhebt sich der geschwungene Baukörper an der Kante des nach Süden hin abfallenden «Bull Ring»-Geländes. Denn die Aussenhaut des Gebäudes ist über und über mit leicht konvexen Aluminiumplatten besetzt - insgesamt sollen es 15 000 Stück sein. Die kreisförmigen, matt schimmernden Elemente vollziehen die Wellen und Krümmungen des Bauvolumens nach, und je nach Lichtsituation beginnt das Gebäude zu gleissen, zu strahlen, zu glühen. Wenige Öffnungen durchbrechen den silbrigen Schuppenpanzer des Reptils: einige blasenartige Fenster an der - selbstverständlich gerundeten - Ostecke, ein rüsselartiger Übergang zum Parkhaus im dritten Obergeschoss und zwei Eingänge auf der Seite der abgetreppten Piazza im Südwesten. Magisch und verheissungsvoll wirkt das Warenhaus. Die Aussenhaut der Stahlkonstruktion besteht aus Spritzbeton, in Yves-Klein-Blau gestrichen, in welchem die Aluminiumpailletten mit ihren 60 Zentimetern Durchmesser verankert wurden. Als Inspiration diente den Architekten Paco Rabannes berühmtes Metallkleid.
Krise der Warenhäuser
Der 1937 geborene tschechische Emigrant Jan Kaplicky gründete Future Systems in London 1979. Mit biomorphen Formen und experimentellen Projekten wurde das Büro bekannt, dem 1989 die Britin Amanda Levete als Partnerin beitrat. Der praktische Erfolg indes stellte sich erst in den vergangenen Jahren ein: In London realisierte Future Systems die muschelartige Pressetribüne auf dem Lord's Cricket Ground und eine filigrane Brücke in den Docklands. Mit Selfridges, dem bisher grössten Projekt, ist dem Team nun ein grandioser Wurf gelungen: Birmingham erhält mit ihm nicht nur ein spektakuläres Wahrzeichen; auch den Typus des Warenhauses hat Future Systems neu definiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg büssten die grossen innerstädtischen Warenhäuser - architektonisch lediglich als hermetische Kisten ausformuliert - allenthalben viel von ihrer früheren Aura ein. Zunächst wurde aus den USA der Typus der an der Peripherie der Städte errichteten Shopping Mall importiert, dann folgte in den achtziger Jahren das Shop-in-Shop-Kaufhaus. Die Grundlage hierfür bildete ein gewandeltes Kaufverhalten: Entsprach die hermetische Box des Warenhauses der sechziger und siebziger Jahre einem Verständnis des Konsums als blosser Bedürfnisbefriedigung, so avancierte mit dem Aufleben eines neuen Hedonismus der Akt des Einkaufens zum Erlebnis.
Dieser mit einer verstärkten Markenorientierung der Kunden verbundene Trend hält bis heute an. Er hat dazu geführt, dass eine architektonische Handschrift beim Shop Design heute wichtiger ist denn je. Die «Epicenter Stores» für Prada, die Rem Koolhaas in New York und Herzog & de Meuron in Tokio eingerichtet haben, sind der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die in den ausgehenden achtziger Jahren mit den minimalistischen Boutiquen von David Chipperfield in London begann. Zu dem Konzept, hochwertige Waren in einem puristischen Ambiente zu inszenieren - der Trendforscher Matthias Horx sprach einmal treffend von «Luxese» -, trat indes bald die Alternative, die verführerische Präsentation der Produkte in Interieurs von einer bisher ungewohnten Formenopulenz. Ohne Zweifel wurde das Büro Future Systems zu einem Vorreiter dieser Entwicklung: Der wie eine Plasticgrotte eingerichtete Blumenladen «Wild at Heart» im Londoner Stadtteil Notting Hill wurde zum Kultgeschäft der neunziger Jahre.
Phantastische Kontraste
Biomorphe Formen sind es auch, welche die Filialen von Rei Kawakubos Label «Comme des Garçons» in Tokio und New York prägen, und seit 2000 ist Future Systems für die Mailänder Firma Marni tätig. Kräftige Farben, nierenförmige Stahltische und baumartig in den Raum geschwungene Kleiderständer sind die Grundelemente des Shopkonzepts, das in Mailand, in der Londoner Sloane Street - und in einem kleinen Marni-Ableger im Selfridges an der Oxford Street realisiert wurde. Mit ambitionierten Bauprojekten will nun Selfridges-Chef Vittorio Radice seiner Firma zur Expansion verhelfen. Das Londoner Stammhaus wird derzeit durch David Adjaye einem Facelifting unterzogen, für Glasgow liegen von Toyo Ito Pläne einer neuen Filiale vor. So ungewohnt Form und Fassade des neuen Warenhauses in Birmingham auch sein mögen: Das neue Selfridges harmoniert in wunderbarem Kontrast mit der benachbarten neogotischen Kirche St. Martin's in the Bull Ring. Und es überstrahlt, glücklicherweise, den Rest des Bull Ring Centre, das in den vergangenen Jahren in der Formensprache einer verspäteten Investoren- Postmoderne aus dem Boden gestampft wurde. Es ist zu bedauern, dass das alte, 1964 eingeweihte Bull Ring Centre - die erste Indoor-Mall nach amerikanischem Vorbild im Königreich - bis auf ein zylindrisches Bürohochhaus dem Abriss zum Opfer gefallen ist. Denn den Weg durch die Kakophonie des neuen Shopping-Komplexes kann man nur als architektonischen Höllentrip einstufen. Umso mehr verdient das neue Selfridges Anerkennung: Es ist der Beweis dafür, dass es auch anders geht. Und dass die architektonische Gestaltung nicht bei der Hülle enden muss.
Im Gebäudeinnern realisierte Future Systems das lichtdurchflutete, nierenförmige Atrium mit seinen sich kreuzenden Rolltreppen, einen zweiten Erschliessungsschacht, den Foodstore mit seinen amöbenartigen Tischen sowie die Kinderabteilung im Erdgeschoss. Für die weiteren drei Geschosse waren andere verantwortlich. Nicht alles überzeugt gleichermassen, doch immer wieder findet man überraschende Einfälle - sei es der klischeehaft rot ausgeleuchtete Dessous-Verkaufsbereich oder die mit schallschluckenden Schaumstoffverkleidungen und grünen Zylinderleuchten ausgestattete Musikabteilung. Nicht die Idee der Transparenz, wie sie Jean Nouvel bei den Galeries Lafayette in Berlin zu realisieren suchte, leitete die Architekten, sondern der Gedanke eines höhlenähnlichen Shopping-Universums. Entstanden ist ein brodelnder Hexenkessel des Konsums im frivolen Paillettenkleid.
Birminghams Hauptbahnhof, die New Street Station, lässt sich als Resultat jener Geringschätzung verstehen, welche Stadtplaner in Grossbritannien lange Jahre gegenüber dem Schienenverkehr an den Tag legten. Denn der Bahnhof ist im Gefüge der Stadt unsichtbar, und der unterirdische Haltepunkt besitzt den Charme einer verwahrlosten U-Bahn-Station. Über die Rolltreppen gelangt man auch nicht in eine Empfangshalle, sondern in ein Shopping Centre, um dann irgendwo einen Ausgang zur Innenstadt zu finden. Allerdings ergiesst sich der grössere Menschenstrom nicht in diese Richtung, sondern nach Osten, wo ein noch grösserer Einkaufszentrum anschliesst, das «Bull Ring Centre». An seinem östlichen Ende ist mit der Birminghamer Filiale des Londoner Warenhauses Selfridges eines der spektakulärsten Werke der zeitgenössischen britischen Architektur entstanden.
Schon an der letztjährigen Architekturbiennale in Venedig hatte das Projekt des in London ansässigen Büros Future Systems Aufsehen erregt. Beinahe massstabslos erhebt sich der geschwungene Baukörper an der Kante des nach Süden hin abfallenden «Bull Ring»-Geländes. Denn die Aussenhaut des Gebäudes ist über und über mit leicht konvexen Aluminiumplatten besetzt - insgesamt sollen es 15 000 Stück sein. Die kreisförmigen, matt schimmernden Elemente vollziehen die Wellen und Krümmungen des Bauvolumens nach, und je nach Lichtsituation beginnt das Gebäude zu gleissen, zu strahlen, zu glühen. Wenige Öffnungen durchbrechen den silbrigen Schuppenpanzer des Reptils: einige blasenartige Fenster an der - selbstverständlich gerundeten - Ostecke, ein rüsselartiger Übergang zum Parkhaus im dritten Obergeschoss und zwei Eingänge auf der Seite der abgetreppten Piazza im Südwesten. Magisch und verheissungsvoll wirkt das Warenhaus. Die Aussenhaut der Stahlkonstruktion besteht aus Spritzbeton, in Yves-Klein-Blau gestrichen, in welchem die Aluminiumpailletten mit ihren 60 Zentimetern Durchmesser verankert wurden. Als Inspiration diente den Architekten Paco Rabannes berühmtes Metallkleid.
Krise der Warenhäuser
Der 1937 geborene tschechische Emigrant Jan Kaplicky gründete Future Systems in London 1979. Mit biomorphen Formen und experimentellen Projekten wurde das Büro bekannt, dem 1989 die Britin Amanda Levete als Partnerin beitrat. Der praktische Erfolg indes stellte sich erst in den vergangenen Jahren ein: In London realisierte Future Systems die muschelartige Pressetribüne auf dem Lord's Cricket Ground und eine filigrane Brücke in den Docklands. Mit Selfridges, dem bisher grössten Projekt, ist dem Team nun ein grandioser Wurf gelungen: Birmingham erhält mit ihm nicht nur ein spektakuläres Wahrzeichen; auch den Typus des Warenhauses hat Future Systems neu definiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg büssten die grossen innerstädtischen Warenhäuser - architektonisch lediglich als hermetische Kisten ausformuliert - allenthalben viel von ihrer früheren Aura ein. Zunächst wurde aus den USA der Typus der an der Peripherie der Städte errichteten Shopping Mall importiert, dann folgte in den achtziger Jahren das Shop-in-Shop-Kaufhaus. Die Grundlage hierfür bildete ein gewandeltes Kaufverhalten: Entsprach die hermetische Box des Warenhauses der sechziger und siebziger Jahre einem Verständnis des Konsums als blosser Bedürfnisbefriedigung, so avancierte mit dem Aufleben eines neuen Hedonismus der Akt des Einkaufens zum Erlebnis.
Dieser mit einer verstärkten Markenorientierung der Kunden verbundene Trend hält bis heute an. Er hat dazu geführt, dass eine architektonische Handschrift beim Shop Design heute wichtiger ist denn je. Die «Epicenter Stores» für Prada, die Rem Koolhaas in New York und Herzog & de Meuron in Tokio eingerichtet haben, sind der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die in den ausgehenden achtziger Jahren mit den minimalistischen Boutiquen von David Chipperfield in London begann. Zu dem Konzept, hochwertige Waren in einem puristischen Ambiente zu inszenieren - der Trendforscher Matthias Horx sprach einmal treffend von «Luxese» -, trat indes bald die Alternative, die verführerische Präsentation der Produkte in Interieurs von einer bisher ungewohnten Formenopulenz. Ohne Zweifel wurde das Büro Future Systems zu einem Vorreiter dieser Entwicklung: Der wie eine Plasticgrotte eingerichtete Blumenladen «Wild at Heart» im Londoner Stadtteil Notting Hill wurde zum Kultgeschäft der neunziger Jahre.
Phantastische Kontraste
Biomorphe Formen sind es auch, welche die Filialen von Rei Kawakubos Label «Comme des Garçons» in Tokio und New York prägen, und seit 2000 ist Future Systems für die Mailänder Firma Marni tätig. Kräftige Farben, nierenförmige Stahltische und baumartig in den Raum geschwungene Kleiderständer sind die Grundelemente des Shopkonzepts, das in Mailand, in der Londoner Sloane Street - und in einem kleinen Marni-Ableger im Selfridges an der Oxford Street realisiert wurde. Mit ambitionierten Bauprojekten will nun Selfridges-Chef Vittorio Radice seiner Firma zur Expansion verhelfen. Das Londoner Stammhaus wird derzeit durch David Adjaye einem Facelifting unterzogen, für Glasgow liegen von Toyo Ito Pläne einer neuen Filiale vor. So ungewohnt Form und Fassade des neuen Warenhauses in Birmingham auch sein mögen: Das neue Selfridges harmoniert in wunderbarem Kontrast mit der benachbarten neogotischen Kirche St. Martin's in the Bull Ring. Und es überstrahlt, glücklicherweise, den Rest des Bull Ring Centre, das in den vergangenen Jahren in der Formensprache einer verspäteten Investoren- Postmoderne aus dem Boden gestampft wurde. Es ist zu bedauern, dass das alte, 1964 eingeweihte Bull Ring Centre - die erste Indoor-Mall nach amerikanischem Vorbild im Königreich - bis auf ein zylindrisches Bürohochhaus dem Abriss zum Opfer gefallen ist. Denn den Weg durch die Kakophonie des neuen Shopping-Komplexes kann man nur als architektonischen Höllentrip einstufen. Umso mehr verdient das neue Selfridges Anerkennung: Es ist der Beweis dafür, dass es auch anders geht. Und dass die architektonische Gestaltung nicht bei der Hülle enden muss.
Im Gebäudeinnern realisierte Future Systems das lichtdurchflutete, nierenförmige Atrium mit seinen sich kreuzenden Rolltreppen, einen zweiten Erschliessungsschacht, den Foodstore mit seinen amöbenartigen Tischen sowie die Kinderabteilung im Erdgeschoss. Für die weiteren drei Geschosse waren andere verantwortlich. Nicht alles überzeugt gleichermassen, doch immer wieder findet man überraschende Einfälle - sei es der klischeehaft rot ausgeleuchtete Dessous-Verkaufsbereich oder die mit schallschluckenden Schaumstoffverkleidungen und grünen Zylinderleuchten ausgestattete Musikabteilung. Nicht die Idee der Transparenz, wie sie Jean Nouvel bei den Galeries Lafayette in Berlin zu realisieren suchte, leitete die Architekten, sondern der Gedanke eines höhlenähnlichen Shopping-Universums. Entstanden ist ein brodelnder Hexenkessel des Konsums im frivolen Paillettenkleid.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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