Bauwerk

Erweiterung Historisches Museum
:mlzd Architekten - Bern (CH) - 2009

Kräftefluss durch Nadelöhre

Ein direkter Kräftefluss in der Tragkonstruktion von «Kubus Titan» hatte für :mlzd-Architekten keine Priorität. Tschopp & Kohler Ingenieure fanden im Entwurf dennoch einen Weg, die Kräft e abzutragen und ein sinnvolles Tragwerk zu entwickeln, das das architektonische Konzept kaum beeinflusste. Dafür war ein aufwendiger und intensiver Planungsprozess mit Neuentwicklungsleistungen im Bereich der Betonfassade notwendig. Ein zu kostspieliger Beitrag, stellt sich nun heraus, denn die Realisierung endete für die Bauingenieure in einem Verlustgeschäft.

Das Historische Museum Bern erweiterte ihre Liegenschaft im südöstlichen Teil an der Helvetiastrasse mit einem Bau, der kompakt und schlicht erscheint. Dessen Tragkonstruktion ist jedoch komplex und anspruchsvoll: Das markante Turmgebäude, die Aussenstufen mit der Pferdetreppe und der Anschluss an die bestehende Gebäudesubstanz stellen bemerkenswerte ingenieurtechnische Herausforderungen dar.

Alt schmiegt sich an neu

Der gesamte Erweiterungsbau schmiegt sich unterirdisch an das alte Museumsgebäude. Die dafür notwendige, 6.40 m tiefe Baugrube schloss deshalb unmittelbar an die bestehende Substanz an. Sie wurde nach ausführlichen geologischen Untersuchungen auf drei Seiten mit einer rückverankerten Rühlwand erstellt, wobei sie teilweise durch eine rückverankerte überschnittene Pfahlwand unterbrochen wurde (Abb. 6). Die durch diverse «wilde» Umbauaktionen beeinträchtigte Altbaufundation entlang der bestehenden Fassade konnte so in jedem Bereich sicherheitsspezifisch und kostenmässig optimal gesichert werden. Die vierte, südliche Seite der Baugrube wurde als Nagelwand ausgebildet.

Gemäss geologischem Gutachten musste im nicht setzungsempfindlichen Baugrund mit einem Grundwasserspiegel gerechnet werden, der bis 2.5 oder gar 5 m über der Bodenplatte liegt. Solange der Wasserstand nicht abschliessend mit seiner Kote geklärt werden konnte, berücksichtigten die Bauingenieure Lastfälle mit Auftriebskräften und sahen konstruktive Massnahmen für Bodenplatte und Betonaussenwände vor (Abdichtungen, entsprechende Dimensionierung, thermische Isolation usw.). Tatsächlich traf man kein Wasser in der Baugrube an – die vorgesehenen konstruktiven Massnahmen entfielen. Einzig zwei unabhängige Leitungssysteme wurden verlegt, die einen Wasserstau verhindern würden; anfallendes Wasser würde in die nördlich liegende Sickeranlage abgeleitet. Deren Lage konnte aus einer Isohypsen-Analyse und mit Sondierschlitzen festgelegt werden. In der südwestlichen Ecke des Neubaus befindet sich der Zugang vom Altbau in den Erweiterungsbau. Über diesen erreichen die Benutzer die Räumlichkeiten in den unteren Geschossen: Haustechnik und Kulturgüterschutzräume im 1. und 2. Untergeschoss sowie die zweigeschossige Wechselausstellungshalle. Da das neue Gebäude nach den Vorstellungen der Architekten an und unter das bestehende Gebäude gebaut werden sollte, musste für den Anschluss während der Ausführung eine spezielle und aufwendige Abfangkonstruktion erstellt werden (Abb. 2). In Absprache mit den beteiligten Unternehmungen wurde eine Variante ausgeführt, die den etappenweisen notwendigen Teilabbruch, den Einbau von Presspfählen unter dem Altbau (Altbau als Gegenlast), den definitiven Einbau eines Betonriegels und den temporären Einsatz eines Stahlbocks (Anpressen der Abfangkonstruktion mit Flachpressen) vorsah. Die neuen Rohbauteile konnten dann in kleinen Etappen ausgeführt werden.

Unterirdisch geschlossen - oberirdisch offen

Über den konstruktiv anspruchsvollen Zugang von Alt- zu Neubau (Galerie) erreichen die Besucherinnen und Besucher die fensterlose Wechselausstellungshalle. Sie ist ein stützenloser, frei installierbarer Raum, der mit einer vorgespannten Rippendecke überdeckt ist (Abb. 3 und 4), und sie bildet gleichzeitig den Boden der darüberliegenden Terrasse, der den Museumsbesuchern offen steht. Nachträglich wurde die gesamte Betonhaut der Rippendecke zurückhaltend schwarz gestrichen.

Die Terrasse ist über eine Treppe von Süden her erreichbar. Diese «Tempeltreppe» mit integrierter Pferdetreppe ist eine zweischalige Deckenkonstruktion mit Betonnocken als Distanzhalter. Sie schliesst als schräge Platte den unterirdischen Eingangsbereich ab (Abb. 5 und 11). Der Zwischenraum der Konstruktion ist mit Misaporbeton wärmedämmend gefüllt. Die Sichtbetontreppe musste unmittelbar nach dem Betonieren geschützt werden. Dies erfolgte mit OSB-Restplatten der Turmfassaden-Schalung.

Schatten für die Wissenschaft

Der markante oberirdische Teil des Neubaus umfasst den Büroturm für die wissenschaftlich tätigen Angestellten. Eine massive Betonfassade schliesst ihn auf drei Seiten annähernd komplett ab. Nur die vierte Seite – die Nordseite – ist als reine Glasfassade ausgebildet. Mit diesem Konzept konnten die Architekten der Anforderung, möglichst schattenreiche Büroräume zu erstellen, gerecht werden (Abb. 7).

Die Lastabtragung erfolgt auf der Nordseite über geschosshohe Ortsbetonstützen (Breite × Tiefe: 20 × 30 cm). Bei den drei anderen Seiten wandern die Lasten über die tragende, 35 cm starke Fassadenhaut aus Beton in den Baugrund. Die einschalige Konstruktion ist innen gedämmt, was den Anschluss der Betondecken erheblich erschwert. Die Bauingenieure haben ihn mit betonierten Nocken gelöst, die bis zu 150 t Last übertragen (Abb. 9). Damit diese Nadelöhre trotzdem möglichst klein blieben und bauphysikalische Ansprüche eingehalten werden konnten, mussten die Auflagernischen dicht ausarmiert und mit speziellen Lagern ausgestattet werden.

Die indirekte Lastabtragung von den Wänden über die Decken via Nocken auf die Fassade und schliesslich in den Baugrund führt zu einem unübersichtlichen Kräftefluss. So täuschen massive Stützen im Geschoss 0 (ab OK Hofplatte) beispielsweise eine tragende Funktion nur vor. Sie tragen praktisch keine Last, weil die Decken zusammen mit den Wandscheiben in den Obergeschossen steifer sind als die Decke, auf der die massiven Ortsbetonstützen stehen (Abb. 10). Entsprechend sind die Stützenfüsse mit Dornen nicht kraftschlüssig und vertikal verschieblich angeschlossen.

Mit bestehenden Bausteinen Neues schaffen

Die drei massiven Fassadenseiten erscheinen kompakt und einfach. Deren Tragkonstruktion mit den bereits angesprochenen Nocken ist jedoch aufwendig: Die Betonwände stehen nicht lotrecht, sondern ragen angewinkelt aus dem Baugrund und sind mit einer präzisen Gehrungslinie miteinander verbunden. Ausserdem ist die über mehrere Geschosse statisch freistehende Fassade vollflächig in Sichtbeton erstellt (Betonsorte: C30/37, XF4, Kieskörnung bis 16 mm). Dabei wurde dem Beton ein Farbzusatz (0.6 % gelbgrüner Farbzusatz 920 der Sika) beigemischt, der der Sichtbetonoberfläche zusammen mit der Schalung aus OSBPlatten eine gewisse «Weichheit» geben sollte.

Die Bauingenieure waren mit dieser aussergewöhnlichen Problemstellung mit Unbekanntem konfrontiert – sie mussten den Fertigungsprozess der Sichtbetonfassade neu entwickeln. Um ein wirtschaftliches Resultat zu erhalten, wählten sie bestehende Bausteine. Zu berücksichtigen galt es auch die hohen architektonischen Anforderungen bezüglich Oberflächenbeschaffenheit, Farbkonstanz, gleich bleibender Verarbeitung, Präzision der geneigten Flächen und schiefen Gehrungslinien sowie Anordnung, Tiefe und Unregelmässigkeit der 4 bis 12 cm dicken Einlagen (Pixels) (Abb. 12 und 13).

Ausschreibung trennt Spreu vom Weizen

Um ein diesen Ansprüchen gerechtes Erscheinungsbild der Fassade zu erhalten, schrieben die Planer die entsprechenden Baumeisterarbeiten in spezieller Weise aus: Die Vergabe wurde an die Bedingung geknüpft, dass die Bewerber an einer Besichtigung inklusive Besprechung teilnehmen und auf der Baustelle ein Modell im 1:1-Masstab erstellen, das die Planer in allen Belangen (Architektur, Ausführung, Qualität usw.) zufriedenstellt – die Baumeister hatten sich erst zu beweisen, bevor sie tatsächlich den Auftrag erhielten.

Die Bauingenieure teilten die Submission der Betonarbeiten ausserdem in zwei Lose auf, um, gemäss ihrer Aussage, die Spreu vom Weizen zu trennen: Los 1 wurden alle Sichtbetonarbeiten zugeordnet, in Los 2 wurde der Massenbeton ausgeschrieben. Diese Trennung ermöglichte den Planern eine allfällige Vergabeaufteilung zwischen Spezialarbeiten und «Massenproduktion» an verschiedene Unternehmen, was Kosten hätte einsparen können. Schliesslich führte aber eine einzige ARGE die Baumeisterarbeiten aus.

Das Risiko, dass bei einer solch komplexen Ausschreibung nur wenige Unternehmen offerieren und die eingegangenen Offerten sehr teuer ausfallen, ist gross. Auch in diesem Fall erhielten die Projektierenden für das Los «Sichtbeton» nur wenige Offerten. Im Laufe der Projektierung konnten Unternehmer und Planer jedoch ein wirtschaftliches Konzept entwickeln, mit dem alle anfallenden Kosten finanziell tragbar wurden – ohne Unternehmervarianten und Redimensionierungen. Eine Lösung innerhalb des Kostenvoranschlags wurde gefunden. Nach der Ausführung der Arbeiten bleibt aber für die Ingenieure die Frage, ob mit einem weniger strengen Leistungsverzeichnis und mehr Offerten eine günstigere Lösung hätte gefunden werden können. Allerdings hätten dann für einen so komplexen Bau Kostenrückstellungen bzw. eine Abgeltungsreserve bereitgestellt werden müssen – eine für die Bauherrschaft wohl weniger praktikable Vorgehensweise (Kostenwahrheit).

Neuentwicklung als Verlustgeschäft

Das gesamte Bauwerk war (nicht nur) aus ingenieurtechnischer Sicht eine äusserst aufwendige planerische Leistung. Im Speziellen hatten die Bauingenieure den Fertigungsprozess der Sichtbetonfassade neu zu entwickeln. Machbarkeitsdiskussionen mussten mit den Architekten geführt und Ausführungsdetails bestimmt und besprochen werden. Dies ist an sich nicht aussergewöhnlich, die gewählten Bausteine sind alle auf dem Markt erhältlich. Das Zusammensetzen aller Einzelelemente zum Erhalt eines möglichen, sicheren und darüber hinaus wirtschaftlichen Fertigungsprozesses bedarf aber eines breiten Fachwissens aller Beteiligten. Ein aufwendiger Prozess, der selbstverständlich auch entsprechend als planerische Leistung abgegolten werden muss.

Tschopp & Kohler Ingenieure meinen jedoch, gerade aus Kostengründen künftig auf solche «Abenteuer» verzichten zu müssen. Für sie war dieses Projekt aus wirtschaftlicher Sicht keinesfalls rentabel. So betrug der mittlere erarbeitete Stundenansatz nur Fr. 62.40 zuzüglich MwSt. – wobei die gesamte Verantwortung gemäss SIA-Norm zu tragen war. Die Bauingenieure sagen selber deutlich, dass sie die Ursache dafür zuerst bei sich selber suchen müssen. Es sei schwierig, vor Vertragsabschluss eine genaue Kostenschätzung anzugeben, da der Weg zum Ziel unbekannt sei. Ausserdem seien sie zu bereitwillig gewesen bei der Bestimmung der Schwierigkeitsgrade.

Um ein solches Projekt nicht nur für die Ausführung wirtschaftlich, sondern auch für die Planer rentabel zu erstellen, müsste die Leistung im eigentlichen Projekt vollumfänglich abgegolten werden, oder zumindest müssten das Resultat, die Erfahrungen und Synergien des beteiligten Teams in einem künftigen Projekt hoffentlich wieder genutzt werden können. Nur so könnten die Prozesse und das erworbene Know-how in Schalungs- und Betontechnik weiterentwickelt und damit schliesslich auch die Rentabilität gesteigert werden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Akteure

Architektur