Bauwerk

Neue Synagoge Mainz
Manuel Herz Architects - Mainz (D) - 2010
Neue Synagoge Mainz, Foto: Gerhard Hagen / poolima
Neue Synagoge Mainz, Foto: Gerhard Hagen / poolima

Zeichensprache

Synagogenzentrum in Mainz

Wie eine Skulptur aus grünen Keramikelementen wächst das neue jüdische Gemeindezentrum direkt aus dem schwarzen Asphalt. Das expressive Gebäude von hoher Qualität signalisiert Selbstbewusstsein und eine gewisse Anspannung, weniger ruhige Gelassenheit.

17. Januar 2011 - Karl R. Kegler
Am Haupteingang des neuen Mainzer Synagogenzentrums ist ein grünes Keramikkästchen angebracht. Es ist eine Mesusa, eine Kapsel, die ein Pergament mit dem zentralen Glaubensbekenntnis des Judentums aus dem fünften Buch Mose enthält. Nach jüdischer Tradition findet dieses Zeichen seinen Platz an jedem Türrahmen eines Hauses. Auf dem kleinen Behälter ist die Silhouette des Neubaus eingeprägt; sie wirkt als abstrahierte Linie wie ein Schriftzug. Dass der Kubatur des Synagogenzentrums auch selbst eine Buchstabenfolge – das hebräische Qadushah: »Heiligung« – eingeschrieben ist, vermag der unkundige Betrachter allenfalls über dieses Detail zu erahnen. Auch Kenner des hebräischen Alphabets werden ihre Schwierigkeiten haben, die fünf Buchstaben Quoph, Daleth, Waw, Shin und He in der Silhouette zu erkennen. Doch auch ohne dieses Wissen kann man sich schwer der Wirkung der gezackten skulpturalen Form des Gebäudes entziehen. Wie eine vieltürmige expressionistische Stadt legt sich der langgezogene Baukörper bandartig um einen geschützten Innenbereich. Im Grundriss knickt das linear organisierte Gebäude dreimal ab, definiert nach Süden und Westen einen Blockrand und bildet zur Innenstadt einen Vorplatz vor dem Haupteingang aus. In seinen Dimensionen bleibt das expressive Ensemble dagegen zurückhaltend. Das trichterartige, riesige Oberlicht des Gebetsraums – das mit Abstand höchste Bauteil – überragt ein angrenzendes viergeschossiges Wohnhaus nur marginal und bleibt niedriger als die benachbarten sechsgeschossigen Baublöcke der Mainzer Neustadt.

Sieben Straßen laufen aus allen Richtungen auf die »Bauinsel« zu, die sich das Synagogenzentrum mit dem genannten Wohnhaus und einem eingeschossigen Kindergarten teilt. An dieser Stelle entstand 1912 die alte Hauptsynagoge, eine von drei Mainzer Synagogen, die die Nationalsozialisten im November 1938 zerstörten. 1999 gewann der damals gerade 29-jährige Architekt Manuel Herz den Wettbewerb für die Neuerrichtung des jüdischen Gemeindezentrums an historischer Stelle. Im November 2008, 70 Jahre nach der Zerstörung des Vorgängerbaus, erfolgte nach einer langen Finanzierungsphase die Grundsteinlegung. Das vollendete Bauwerk weicht erstaunlicher- und erfreulicherweise nur wenig von den Wettbewerbsplänen von 1999 ab.

Form und Formauflösung

Zu den Grundgedanken des Entwurfs gehört die Gestaltung der Längsfassaden mit plastischen Keramikelementen. Die dunkelgrün glasierten Formteile legen sich in konzentrischen Rahmen um die unregelmäßig eingeschnittenen Fenster und füllen die gesamte Fassadenfläche. Die verschieden ausgerichteten Rahmenfelder aus parallelen Zackenkämmen treffen in stumpfen und spitzen Winkeln aufeinander und zeichnen ein Muster aus verzogenen Dreiecken, Rhomben und Trapezen, das zwischen Form und Formauflösung oszilliert. Ein verblüffender und überaus reizvoller Effekt der Fassade besteht darin, dass die lotrechten Außenwände eine kubistische Dreidimensionalität und Tiefe gewinnen. Dies ist durch das unregelmäßige Patchwork aus Feldern paralleler Linien bedingt, die das Gehirn als dreidimensionale Körper interpretiert. Verstärkend kommt hinzu, dass Licht und Schatten auf den dreidimensionalen Elementen unterschiedliche Zonen von spiegelnder Helligkeit und tiefem Schwarz erzeugen. ›

Eine ähnliche optische Tiefenwirkung hat der amerikanische Künstler Frank Stella, der zu den Inspirationsquellen des Architekten zählt, in den späten 60er Jahren in minimalistischen Linienbildern erkundet. Stella stellte traditionelle Bildformate und -rahmungen in Frage und entwickelte aus den Polygonfeldern seiner zweidimensionalen Linienbilder dreidimensionale Skulpturen. Für das Mainzer Synagogenzentrum hat Manuel Herz ein ähnliches Verwirrspiel aus Flächenmustern auf die mehrfach abknickenden Längsseiten des Gebäudes übertragen. Eine gewisse Nervosität in dieser Inszenierung wird vor allem auf der Gartenseite deutlich. Im optisch vieldeutigen Spiel der keramischen Rahmenelemente sind die unregelmäßig eingeschnittenen Fenster lediglich Restflächen. Das Linienmuster wirkt zwar dreidimensional, bleibt aber ein zweidimensionales »Bild«. Die Keramikbekleidung ist eine Skulptur aus abknickenden Flächen, weniger die Hülle eines dreidimensionalen Körpers. Folgerichtig haben die Schmalseiten des Gebäudes, das ganz aus einer Stahlbetonkonstruktion besteht, einen anderen Charakter als die aufwendig gestalteten Längs- und Bildseiten und sind mit blaugrau vorpatinierten Zinkblechen verkleidet, die sich gewissermaßen in einer einzigen Bahn von der Sockelzone im Osten über die etwa 30 Mal abknickende Dachfläche bis zur gegenüberliegenden Schmalseite ziehen.

»Die Farbe gefällt mir einfach«

Der Wettbewerbsentwurf von 1999 sah die Umsetzung der skulpturalen Fassade durch vorgefertigte Betontafeln vor, was sich nicht als praktikabel erwies. Herz entwickelte darauf die Winkelelemente der Fassadenverkleidung in Zusammenarbeit mit dem Kölner Keramik-Experten Niels Dietrich und einem Deutschen Keramik-Hersteller. Grundelement ist eine einzelne Strangpressform, die werksseitig auf drei Längenmodule, drei Standard-Gehrungslemente sowie für spezielle Pass- und Anschlussstücke zugerichtet wurde. Die rationelle Produktion der Grundform und die Herstellung von Passstücken halten sich bei diesem System die Waage. Die einzelnen Winkelelemente, die wie Nut und Feder ineinandergreifen, werden auf ein Befestigungssystem aus Aluminiumschienen aufgesetzt, das exakt das spätere Linienmuster vorzeichnet. Durch die unterschiedlichen Längenmodule wird das optisch unbefriedigende Zusammentreffen von Stoßfugen vermieden. Die Keramikelemente zeichnen – in Analogie zur Fachsprache der Maurer – einen wilden Verband.

Ein wichtiges Element für die Wirkung der Keramikfassade ist ihre Farbe. Durch ihre dreidimensionale Form wird der Farbverlauf der dunkelgrün glasierten Teile im Brennprozess leicht unregelmäßig. Bei direktem Sonnenlicht strahlt die Außenhaut in einer Vielzahl leicht changierender Grüntöne, bei trübem Wetter wirkt sie fast schwarz. Die ausgewählte grüne Glasur ist Ergebnis einer langen Versuchsreihe aber letztlich eine Setzung des Architekten. »Mir gefällt die Farbe einfach«, erzählt Manuel Herz. Die Zulassung der völlig neu entwickelten Fassade war aufgrund der Unterstützung der Prüfingenieure des Herstellers kein Problem.

Offen & expressiv

Vorteil der dreidimensionalen Fassadenelemente und ihrer Glasierung ist nicht zuletzt, dass sie für das Anbringen von Graffitis unattraktiv ist und leicht gereinigt werden kann. Jedes Element kann zudem im Bedarfsfall einzeln ersetzt werden. In vielen Detailfragen spielten bei der Planung auch Sicherheitsüberlegungen eine Rolle. Ein direktes Heranfahren an das Gebäude ist von keiner Seite möglich, sämtliche Fenster bestehen aus Sicherheitsglas. Es ist das Verdienst der jüdischen Gemeinde und des Architekten, dass sich der Gebäudekomplex trotzdem ohne Zäune und schwere Betonbarrieren zur Stadt hin öffnet. Auffälligstes Bauteil des Ensembles ist das riesige, kantige, trichterförmige Oberlicht der Synagoge, das fast genausoviel Volumen umschließt wie der Versammlungsraum selbst. Die zinkverkleidete Untersicht dieses »Lichttrichters«, der an ein »Schofar«, ein zeremonielles Widderhorn, erinnern soll, bietet von außen leider eine weniger attraktive Ansicht als die Keramik verkleideten Längsseiten. Im Innern des Gebetsraums ist die Wirkung vollkommen anders. Dem Architekten ist das wirkliche Meisterstück gelungen, der nach innen orientierten Versammlungsstätte durch die Lichtführung eine Richtung zu geben, ohne den meditativen Charakter des Zentralraums zu relativieren. Der Gebetsraum wirkt harmonisch, ruhig und selbstverständlich. Das riesige Fenster des Oberlichts weist nach Osten, nach Jerusalem. Alle Wandflächen sind mit einem goldfarbenen Stuckrelief aus Tausenden dicht an dicht stehenden hebräischen Buchstaben gestaltet. Die Buchstabentextur lichtet sich an herausgehobenen Stellen; dort werden hebräische Texte Mainzer Rabbiner des 11. Jahrhunderts lesbar.

Das übrige Raumprogramm besteht aus einem Foyer, einem Versammlungssaal, Schulungs- und Verwaltungsräumen und zwei Wohnungen für Hausmeister und Rabbiner. Die öffentlichen Nutzungen bilden ein spannungsvolles Raumkontinuum. Die Nutzungsbereiche sind jeweils durch abwechselnd niedrige und sehr hohe Deckenzonen gekennzeichnet, die Wände teilweise gekippt und nach innen durchfenstert. Schiebetüren schließen auf dem Galeriegeschoss zwei Seminarbereiche ab. Es sind in ihrer momentanen Leere beinahe beunruhigende Räume. Der Betrachter fühlt sich hier – stilgeschichtlich gesprochen – in das expressionistische Kabinett des Dr. Caligari versetzt.

Innen wie außen präsentiert sich das neue Haus außergewöhnlich offen und selbstbewusst – aber nicht ohne Spannung und expressive Zerrissenheit. Die grünen Fassadenelemente sind mittlerweile zu einem Sinnbild des Bauwerks geworden, das auf einem Sympathieplakat der Stadt Mainz stellvertretend für das ganze Gebäude steht: »Willkommen mitten unter uns! Mainz freut sich über die neue Synagoge.«

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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