Bauwerk

Hauptplatz Leoben
Boris Podrecca - Leoben (A) - 1997
Hauptplatz Leoben, Foto: Gerald Zugmann
Hauptplatz Leoben, Foto: Gerald Zugmann

Grappa ätzt Geschichten frei

Hauptplatz von Leoben war lange nur mehr ein Automobilreservat mit bezuglosem Architekturpassepartout. Boris Podrecca konstruierte neue Bedeutungen und hat damit die alte Einheit des Stadtraums zurrückgewonnen.

3. Juli 1999 - Walter Chramosta
Wie weit läßt sich ein Ort in einer Stadt von seinen historischen Entstehungsbedingungen entfremden, ohne daß der bauliche Rahmen zu einer letztlich grotesken Kulisse herabkommt? Wie weit kann man einem Stadtraum seine angestammten, temporären Nutzungsmuster abgewöhnen, ohne daß dies dauernd als Mangel sichtbar wird? Wie lange kann das Prinzip des Öffentlichen auf einem Stadtplatz, etwa die Frei- und Großzügigkeit für Passanten durch das Private, etwa das massierte Auftreten von ruhenden Kraftfahrzeugen, unterdrückt werden?

Für all diese Grenzzustände einer tradierten, urbanen Platzfigur hat der Städtebau keine funktionalen Schwellenwerte festmachen können. Eine von Gebäuden dicht umstandene Fläche gibt nicht automatisch einen intakten Stadtplatz ab. Man kennt die geometrische Bedingung, daß eine Raumsituation dann als Platz wahrnehmbar ist, wenn die Weite nicht kleiner als die einfache und nicht größer als die dreifache Höhe der Randbebauung ist. Es ist dagegen unmöglich, den hochkomplexen Wandel einer alten Stadtstruktur simpel zu quantifizieren. Aber es gibt qualitative Indikatoren, die gefährliche Entmischungsvorgänge des Stadtlebens anzeigen: Rascher Eigentümerwechsel, beschleunigte Mieterfluktuation, Leerstände in den Sockelzonen oder die Nivellierung des Waren- und Dienstleistungsangebots weisen auf eine instabile Situation.

Vom Leobener Hauptplatz kann daher nicht mit knappem Befund behauptet werden, er sei als städtebauliche Großeinheit zuletzt auf der Kippe gestanden. Aber es gibt deutliche Anzeichen einer unkoordinierten Entwicklung, die ihn in seiner damaligen Verfassung zum Teil des kommunalen Imageproblems, nicht zum Teil der Lösung machten. Photos der siebziger Jahre zeigen einen vom Kraftfahrzeug dominierten Bewegungsraum mit drei Fahrstreifen in beiden Längsrichtungen und breiten Gehsteigen an den Rändern.

Der Hauptplatz war damals integrierter Teil des regionalen Straßennetzes. Er diente als Busbahnhof und mit einem breiten Parkierungsbereich in der als Automobildepot, dessen Kapazitätsgrenze im Rahmen der fortschreitenden Motorisierung immer bedrängender wurde. Weitgespannte Zebrastreifen machten die Hierarchie der Verkehrsteilnehmer klar; der Fußgänger war die Randexistenz auf diesem dem Fahrverkehr gewidmeten Territorium.

Als Rettungsinseln in der durchgehenden Asphaltfläche standen dem Flaneur die Pestsäule, eine Reihe von vier firsthohen Lichtflutern und zwei Brunnen mit angelagertem Verlegenheitsgrün zur Verfügung. Insgesamt also zu viele verkehrliche und pflanzliche Einschränkungen, zu wenige vorbereitete Flächen für die Entfaltung städtischer Ereignisse.

Ursprünglich entsteht der rechteckige Hauptplatz mit 180 Meter Länge und 32 Meter Breite als zentraler Raum der in einer Murschleife situierten, planmäßigen Siedlungsgründung in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Die Längsfronten sind in der Hälfte durch Quergassen unterbrochen, sodaß sich als ältester Stadtkern vier annähernd quadratische Viertel um den Hauptplatz gruppieren.

Seine Dimensionen überschreiten den Eigenbedarf für Markt, Versammlung und Feierlichkeiten bei weitem; vielmehr sind sie Ausdruck der Lage Leobens an seit dem Altertum sich hier kreuzenden, bedeutenden Verkehrswegen und der Rolle der Stadt als Handelsplatz. Selbst für die mit etwa 30.000 Einwohnern heute zweitgrößte Stadt der Steiermark, für den Sitz der weltweit renommierten Montanuniversität und den nach der Verstaatlichtenkrise wiedererstarkten Industriestandort kann der Hauptplatz als großzügig gelten – wenn er bespielbar ist.

Offensiv angehend gegen die prekäre wirtschaftliche Lage – Donawitz mit seinem Stahlwerk ist eingemeindeter Teil Leobens – und das damit auch verbundene Selbstwertdefizit, beschließt der Gemeinderat 1994 einstimmig die Abhaltung eines Gutachterverfahren über die Neugestaltung des Hauptplatzes und der zuführenden Gassen. Boris Podreccas Vorschlag eines „leeren Platzes“ wird ganzheitlich zur Ausführung empfohlen, weil er der Jury am ehesten durch „eine ganz neue Oberflächenqualität, mit einer durchdachten und visuell prägnanten Zonung der Flächen die unterschiedliche Möglichkeit der Benutzung (also Belebung)“ garantiert.

Die Realisierung der Oberflächen verursachte relativ moderate Kosten von etwa 64 Millionen Schilling (rund 4,7 Millionen Euro) einschließlich aller Nebenleistungen und wurde im April 1997 abgeschlossen. Die Beobachtung zeigt, daß der neue Freiraum angenommen wird, daß Podreccas Konzept einer durch den gleichzeitigen Bau einer Tiefgarage möglichen Ausräumung des Platzes aufgeht und die zu Baubeginn durchaus nicht unumstrittene Radikallösung eine Neubewertung des Stadtkerns bewirkt, die der gesamten Stadt nützt.

Podrecca überrascht mit dieser reifen Leistung die Fachwelt nicht. Er ist – 1940 in Belgrad geboren, in Triest aufgewachsen und in Wien als Architekt ausgebildet – ein interkultureller Grenzgänger im kakanischen Kosmos, ein polyglotter Fachmann des Urbanen, ein akribischer, von klassischer wie moderner Architektur Besessener sowieso. Es ist für die Stadtaktivierung also ein prädestinierter, weil sendungsbewußter Planer, der auf Grund seiner verwirklichten Stadtraumreparaturen in Salzburg, Cormons, Piran, Wien oder Verona genau weiß, daß Halbherzigkeiten auf diesem Sektor besonders leicht desaströs enden können.

Die Entwurfsstrategie hinter Podreccas Stadträumen ist konsequent und konstant. Sie zielt auf die Akzentuierung „der Unterschiede in der gleichzeitigen Wahrnehmung der Zeitschichten“, also auf das Angebot eines möglichst vieldeutigen Feldes synchroner Raumwahrnehmungen, die in assoziativem Zusammenhang zu Eigenschaften des vorgefundenen Stadtraums stehen. Gewissermaßen ätzt der in italienischen Städten Geprägte immer mit scharfem Gedankengrappa tragende Geschichte(n) unter nebensächlichen historischen Transgressionen frei. Die endliche Wirkungseinheit zwischen Alt und Neu soll gelassen und großzügig sein.

Podrecca will keinen starren Kontext zu dem schreiben, was ihm die Stadt als inspirierende Ursachen zeigt (Gelände, Geometrie, Licht, Farbe, Geruch, Milieu, Material et cetera) und ihn uns als Sekundärliteratur bei der Lektüre des Ortes andienen, sondern er will den Passanten dazu verleiten, mit der Stadt direkt in produktiven Dialog zu treten. Es geht ihm nicht um die Beschreibung einer in vielen Facetten vorliegenden Historie, sondern um deren synthetische Umschreibung, um ihre Vergegenwärtigung, um eine Provokation der verschütteten Dinge. Denn Fortschritt entsteht für Podrecca nur aus der „umfassenden Präsenz des Vergangenen“, bei der Weitung des räumlichen Gedächtnisses beim Passanten, durch die „gedehnte Temporalität“ des jetzt Wahrnehmbaren.

Kontexte müssen die Form des umgebenden Textes wahren; Podreccas Assoziationen und Konnotate können die meist mit hohen Denkmalwerten behafteten Ausgangsfiguren der Stadtkerne respektieren, aber auch karikieren, ironisieren, subversiv provozieren oder mit Manierismen unterlaufen. Das geht manchen Kritikern in einer Zeit der Reduktionismen architektonisch entschieden zu weit; der Leobener Entwurf weist aber nur wenige Aspekte des von Podrecca so geschätzten „Ludischen“ auf, er wirkt vergleichsweise diszipliniert.

Prodreccas Platzregulativ basiert wie immer auf dem Ingenieurmäßigen, auf der raschen Entwässerung der Oberflächen. Zum natürlichen Längsgefälle des Platzes kommt so ein Querprofil mit dem Gipfel im einen Drittelpunkt, während im anderen die Kandelaberreihe steht. Die Längsrigole liegen nächst den Fassaden, als Steinbänder zusammengefaßt, und gehen in rote Querstreifen über, die die Liegenschaftsgrenzen markieren.

Die zwei Hauptflächen sind mit grauen Graniten belegt, die Enden des überlangen Platzes, um die beiden exzentrisch gesetzten Brunnen, mit grünem Diabas. Wie Teppiche ziehen sich die Beläge der Seitengassen unter den Hauptfeldern durch und machen die Winkelverschiebung im Stadtgrundriß sichtbar.

Die mittige Pestsäule wird durch die nachts mildes Bartenbach-Licht diffus auf den Platz werfenden Kandelaber ebenso wenig konkurriert wie durch die konsequent standardisierte Möblierung der Bars. Alle Schichten der Geschichte sind freigelegt, zu Geschichten geordnet, trotzdem sind sie dem Stadtwanderer schon bald nicht mehr als ein Hintergrund.

Podreccas Vermutung bestätigt sich: „So werden in der tradierten, aber verklärten Physis der Stadt noch immer die besten Orte jene sein, wo der Mensch imstande sein wird, sich inmitten von Ungewißheiten aufzuhalten, ohne gereizt nach Tatsachen und Gründen fragen zu müssen.

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