Bauwerk

Musée Unterlinden - Erweiterung
Herzog & de Meuron - Colmar (F) - 2015

Mit Mut und Witz

Ein Bravourstück haben Herzog & de Meuron mit der Umgestaltung des Museums Unterlinden in Colmar abgeliefert: Die Neubauten werten den Bestand städtebaulich auf, die Architektur ist hintergründig und feinfühlig – und schreckt doch nicht vor Tabubrüchen zurück.

4. November 2016 - Judit Solt
Die Aufgabe, die Herzog & de Meuron in der Altstadt von Colmar zu erfüllen hatten, stellt sich zurzeit rund um die Welt: In die Jahre gekommene Mu­seums­bauten müssen renoviert und erweitert werden, um die stets wachsenden Sammlungen unterzubringen und die Besu­cherfrequenz mit rasch wechselnden Ausstellungen zu erhöhen. Auch der Ansatz, mit dem die Basler Architekten den internationalen Wettbewerb gewannen, ­erinnert an viele andere Lösungen, die in den letzten Jahren rund um die Welt gebaut wurden: Sie fügten ein neues Volumen hinzu und verbanden Alt und Neu mit einem unterirdischen Trakt. Doch so bewährt diese Rezeptur klingt, so unterschiedlich wird sie jeweils konkret umgesetzt (vgl. «Kunst­museen, erweitert», TEC21 33–34/2016); und die Umsetzung von Herzog & de Meuron in Colmar ist eine ausserordentlich gut gelungene.

Eigentlich mag man hier gar nicht von einer Erweiterung sprechen, die man in Zukunft mit weiteren beliebig fortsetzen könnte. Viel eher ist es eine Ergänzung – und zwar nicht nur deshalb, weil Teile hinzugefügt wurden, die Lücken im Stadtgefüge füllen, sondern durchaus auch im Sinn einer neuen Ganzheit, einer Vollendung. Vor allem auf städtebaulicher Ebene erlangt die Anlage erst mit den Neubauten jene Kraft, die sie hervortreten und auf ihre Umgebung ausstrahlen lässt.

Ergänzendes Gegenüber

Vor dem Eingriff war das Museum Unterlinden am gleichnamigen Platz in der Altstadt in einer mittelalterlichen Klosteranlage mit Kapelle, offenem Kreuzgang, Brunnen und Garten untergebracht. Nach dreijähriger Bauzeit ist im Dezember 2015 auf der anderen Seite der Place Unterlinden ein zweites Ensemble hinzugekommen, das dem Kloster spiegelbildlich gegenübersteht: ein neu errichteter, «Ackerhof» genannter Trakt, die für Museumszwecke umgenutzten ehemaligen kommunalen Bäder und ein neuer, ummauerter Hof.

Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen den beiden Gegenübern ist gewollt. Der «Ackerhof»-Neubau orientiert sich volumetrisch nach der Klosterkapelle, der neue Hof erinnert an einen Kreuzgang und ist wie der Klostergarten in einem geometrischen Muster bepflanzt. Dennoch ist das neue Ensemble als das zu erkennen, was es ist: eine ausgewogen komponierte Collage von Elementen aus unterschiedlichen Epochen. Damit passt es sich in die Altstadt ein und fügt deren vielfältigen, sich überlagernden Zeitschichten eine neue hinzu.

Selbst die eher durchschnittlichen Nachkriegsbauten, die zwischen den historischen Häusern der Umgebung eingestreut sind, erhalten dadurch eine gewisse Würde. Gleichzeitig bewirkt die volumetrische Symmetrie der beiden Gegenüber, dass sie die zwischen ihnen liegende Place Unterlinden neu definieren – als gefassten urbanen Platz, der in der dichten Altstadt einen Ort der Weite und Erholung darstellt, aber auch als starke Mitte zwischen den beiden Polen des Museums.

Weil der Platz von den Parkplätzen befreit wurde, die ihn bisher besetzt hatten, ist er auch auf Fussgängerebene räumlich wirksam. Damit erhält er jene Bedeutung zurück, die in der Geschichte der Klosteranlage angelegt ist, als Stallungen und Wirtschaftsgebäude vis-à-vis von Kirche und Kreuzgang den Ort formten. Zudem wurde der Canal de la Sinn, der unter der Altstadt von Colmar hindurchfliesst, geöffnet und zum zentralen Element des Platzes aufgewertet. Unter dem Platz und dem Kanal verbindet der neue unterirdische Trakt «Galerie» die beiden Pole des Museums.

Und schliesslich kommt noch ein kleiner, auf den ersten Blick rätselhafter Neubau hinzu: das sogenannte «Haus» auf dem Platz, das als Oberlicht dient und die darunter liegende «Galerie» mit Tageslicht versorgt.

Dichtes Gewebe von urbanen Bezügen

Auch architektonisch zeugt dieses Projekt von einer äusserst reflektierten Auseinandersetzung mit der historischen Dimension der Stadt. Die Eingriffe am Kloster hatten zum Ziel, frühere Umbauten wieder rückgängig zu machen und die Qualität der historischen Bausub­stanz wieder zu offenbaren; sie sind entsprechend zurückhaltend gestaltet und fügen sich als elegante, erst auf den zweiten Blick erkennbare Ergänzungen in den Bestand ein.

Die kommunalen Bäder wurden nur so weit wie nötig verändert: Das Schwimmbecken beispielsweise ist noch im Eventsaal sichtbar, und die neuen Treppenhäuser sind in Materialisierung und Farbe den Altbauten angepasst. Auch die beiden oberirdischen Neubauten – der neue Trakt «Ackerhof» und das «Haus» – vermeiden jeden plakativen Kontrast zur Umgebung. Sie reihen sich mit Selbstverständlichkeit zwischen den Nachbarbauten ein; nur sind ihre Volumen eine Spur stärker abstrahiert, und ihre rauen Fassaden aus gebrochenen Ziegeln bilden eine textil anmutende Hülle, die über die Volumen gespannt zu sein scheint.

Mit präzisen Baukörpern, ausgewählten Formen, traditionellen Materialien und vertrauten Motiven fügen die Architekten ihre Neubauten in das komplexe, historisch gewachsene urbane Gewebe von gegenseitigen Bezügen ein.

Das «Haus» als vieldeutiges Zeichen

Nähert man sich der Anlage, fällt zuerst der kleinere der beiden Neubauten auf. Das stilisierte «Haus» am Kanal steht mitten auf dem Platz, also gewissermassen im Weg, und seine Rolle erschliesst sich nicht auf den ersten Blick. Tatsächlich verdichtet sich darin eine Vielzahl von direkten und indirekten Referenzen. Zum einen evoziert es die Vergangenheit, indem es eine Mühle, die früher fast genau an jener Stelle gestanden hatte, volumetrisch wieder auferstehen lässt. Zum anderen verweist es auf die gegenwärtige Situa­-tion:

Rein funktional betrachtet ist es ein Oberlicht, das die unterirdische Galerie tagsüber von oben erhellt und nachts in die Stadt hinaufleuchten lässt; man kann durch die grossformatigen Fenster des «Hauses» in die Ausstellung blicken und den Zusammenhang der Gesamtanlage erkennen. So betrachtet ist es auch eine Replik auf die Pyramiden im Hof des Pariser Louvre (Ieoh Ming Pei, 1985–1989), die ebenfalls als Oberlichter eines unterirdischen Trakts dienen, deren Stahl-Glas-Ästhetik jedoch die Beziehung zwischen Alt und Neu auf einen harten Gegensatz zuspitzt.

Und nicht zuletzt lässt sich das «Haus» als Variation eines Themas lesen, das Herzog & de Meuron in den letzten Jahren immer wieder aufgegriffen haben – etwa 2003 beim stilisierten Pförtnerhäuschen des Schaulagers in Münchenstein BL (vgl. «Landschaft und Identität», TEC21 25/2003) oder auch, in etwas pragmatischerer Form, 2015 beim schopfartigen Gebäude über der Tiefgarageneinfahrt des Mehrfamilienhauses im Zellwegerpark in Uster (vgl. «My home is my castle», TEC21 9–10/2016): das geradezu arch­e­typische Motiv des kleinen Hauses als getarntes Tor zu einer anderen Welt.

Nachahmer unerwünscht

Der neue «Ackerhof» ist deutlich grösser, fällt aber als spiegelbildliches Pendant zur Klosterkapelle weniger auf. Zudem wirkt er mit seiner länglichen Form, seinem Giebeldach, seinen Spitzbogenfenstern und seinem jäh abgeschnittenen Volumen wie die zerbombten und später umgebauten Überreste eines Kirchenschiffs. Das Bild ist im kriegsversehrten Europa und insbesondere im Elsass vertraut, doch dieses Gebäude hier ist neu. Eine Maskerade also, ein Fake? Mitten in einer mittelalterlichen Altstadt, gegenüber einer authentischen, 1269 geweihten Klosterkapelle …? Aber ja. Selbst ein vermeintlich zugemauertes Spitzbogenfenster gibt es in der Fassade zu entdecken – eine liebevoll und vielleicht nicht ganz ohne Ironie gelegte falsche Fährte für Liebhaber des kultivierten Rätselspiels.

In welchem anderen zeitgenössischen Bau kommt ein solcher Tabubruch so wunderbar leichtfüssig, so verblüffend sinnfällig daher? Wo sonst gibt es eine so stilsichere Verschmelzung von minimalistischen, analogen und postmodernen Ansätzen? Eine wahre Freude – die allerdings durch die Befürchtung getrübt wird, das virtuose Spiel könnte eines Tages auf weniger hohem Niveau nachgeahmt werden …

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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