Bauwerk
GrimmWelt Kassel
kadawittfeldarchitektur - Kassel (D) - 2015
Gehobener Sprachschatz
Seit September 2015 bereichert die Grimmwelt die Kasseler Museumslandschaft. Zum Publikumserfolg der Schau über Leben und Werk der Brüder Grimm trägt ganz wesentlich die Ausstellungsgestaltung bei: So führt die Wanderung durch die Welt der Märchensammler durch einen stilisierten Papierwald.
3. Juni 2016 - Klaus Meyer
Gegenstand der Ausstellung ist nicht nur das gewaltige Werk der Brüder Grimm, sondern auch ihr weit gespanntes Wirken. Wie aber z.B. das unermüdliche Briefeschreiben der beiden Wortarbeiter illustrieren? Wie ihre unausgesetzte Korrespondenz mit rund 1400 Personen aus aller Welt zur Darstellung bringen? Wie das Erstaunliche so in Szene setzen, dass es staunen macht? Die Lösung ist am Haltepunkt »Organisierung« zu besichtigen. Dort geht die Post ab – und zwar auf einem Kartentisch, der die Umrisse von Europa zeigt: Vom hessischen Kassel als dem pulsierenden Herz des Kontinents spannen sich feine Glasfaserstränge bis zu Adressen in ganz Europa. Auf diesen Linien wandern unablässig Lichtpunkte hin und her. Innerhalb Deutschlands, wo der Briefverkehr am intensivsten ist, leuchtet der Stern besonders hell. Doch strahlt er aus bis Moskau, Edinburgh, Lissabon und Palermo. Die digitaltechnisch aufwendige Installation fasziniert, weil sie einen langwierig-unanschaulichen Prozess in einem leicht fasslichen Bild einfängt. Freilich sind es keineswegs nur die Hightech-Formate, die in der Grimmwelt faszinieren.
Anderswo gibt es andere Highlights. Mal sind es alte, vergilbte Bücher, mal historische Zeichnungen und Objekte, mal moderne Skulpturen und Installationen.
Auch Filme, Hologramme und Dioramen fügen sich harmonisch in den gestalterischen Rahmen, den das Kuratorinnen-Team um Annemarie Hürlimann und Nicola Lepp sowie die Ausstellungsdesigner Holzer Kobler Architekturen geschaffen haben.
Den meisten Inszenierungen der Grimmwelt liegen naturgemäß Texte zugrunde. Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) haben Berge beschriebenen Papiers hinterlassen, und ein gewichtiger Teil dieser Zettel, Kladden, Dossiers und Bücher ist in Kassel entstanden. Dort haben die in Hanau geborenen Brüder zwischen 1798 und 1829 gelebt. Dort trugen sie auch den Grundstock ihrer weltberühmten Märchensammlung zusammen, betrieben umfangreiche germanistische Studien und publizierten Bücher über Sagen, Runen und Rechtsaltertümer. Die Ausstellung berücksichtigt jedoch nicht nur die Kasseler Zeit der Brüder, sondern auch ihr späteres Wirken in Göttingen und Berlin, wobei die gemeinsame Arbeit am »Deutschen Wörterbuch« einen Schwerpunkt bildet. Reiches biografisches Anschauungsmaterial steuert ein dritter, heute zu Unrecht kaum noch beachteter Bruder Grimm bei: Ohne die Zeichnungen und Bilder des Malers Ludwig Emil Grimm (1790-1863), der an der Kasseler Kunstakademie lehrte, wäre die Schau um einige ihrer schönsten Exponate ärmer.
Der Rahmen des Rahmens
Attraktiv ist indes nicht nur der Inhalt der Grimmwelt. Schon das landschaftliche und architektonische Drumherum lohnt den Besuch. Das vom Aachener Büro kadawittfeldarchitektur entworfene, 2015 fertiggestellte Museumsgebäude steht in einem malerischen Park nahe der Kasseler Innenstadt. Steintreppen, Mauerfragmente und Pergolen prägen die Atmosphäre der Grünanlage am Hang des Weinbergs. Der neue Baukörper verstellt diese Kulisse nicht, sondern bereichert sie.
Betont wird die Zugehörigkeit durch die weitgehend geschlossene Bruchsteinhülle, die abgetreppte Kubatur und eine Funktionalität, die über das bloße Einhausen eines Inhalts weit hinausgeht: Als öffentlich zugängliche Treppenanlage, die ihren Abschluss in der Aussichtsterrasse auf dem Dach findet, gehört das Gebäude gewissermaßen schon zur Ausstellungsarchitektur, führt es den Besuchern doch die Landschaft vor Augen, in der die Brüder einmal zu Hause waren.
Im Innern erstreckt sich ein zentrales Foyer vom Eingang bis zu einem lichtdurchfluteten Café mit Panoramablick auf die Kasseler Karlsaue. Gegenüber dem offenen Museumsshop in der Mitte des Foyers gewährt eine Galerie Einblick in die tiefer gelegene Split-Level-Ebene. An die Rückwand dieses »Auftraktraums« projizierte Wörter markieren den Übergang in die eigentliche Grimmwelt. Die Galerie war ursprünglich nicht vorgesehen. Man habe »die Lösung gemeinsam mit den Architekten und den Kuratorinnen erarbeitet«, sagt die bei Holzer Kobler für das Projekt verantwortliche Planerin Simone Haar. Auch anderenorts wurden Raumstrukturen an die Wünsche der Ausstellungsgestalter angepasst. Beispielsweise entstanden statt der geplanten Ausstellungskabinette Großräume mit eigens entwickelter Binnengliederung.
Von Ärschlein bis Zettel
Thematisch gliedert sich die Schau in drei Abteilungen. Die erste ist im Zwischengeschoss untergebracht und widmet sich dem philologischen Schaffen der Brüder. Im UG präsentiert sich zunächst die Märchenwelt mit einer Fülle medialer Inszenierungen und abschließend die biografische Abteilung, die unter anderem mit Skizzen von Ludwig Emil Grimm aufwartet. Das eigentliche Ausstellungskonzept leiteten die Kuratorinnen aus dem Grimmschen Sprachkosmos ab: Ein Glossar, dessen Stichwörter dem »Deutschen Wörterbuch« entnommen wurden, ordnet den Stoff und weist den Weg durch die Schau. Insgesamt gibt es 25 Haltepunkte, die durch Leuchtbuchstaben von A bis Z gekennzeichnet sind, aber nicht der alphabetischen Ordnung folgen. Der Rundgang beginnt bei »Zettel«, führt über »Buch« und »Froteufel« zu »Ärschlein« und verläuft sich eine Treppe tiefer in der »Dornenhecke«, in »Cassel« oder im »Glück«.
Mit »Zettel« hat es eine besondere Bewandtnis. »All ihre Ideen, Geschichten und Gedanken notierten die Brüder Grimm auf kleine Stücke Papier, die sie sortierten und schließlich zu Werken mit völlig konträrem Charakter zusammenfügten«, sagt Simone Haar. »Diese komplexe Strategie mit ihren unendlichen Möglichkeiten fesselte uns und wurde zum Gestaltungsprinzip der Ausstellung.« Die Grundidee manifestierte sich als ein System aus papierartigen Wandscheiben. Die Anmutung rührt von dünnen, transluzenten Glasfaserplatten her, die beidseitig auf Metallgestelle geschraubt wurden. Die Scheiben zonieren Räume, schlucken Geräusche, grenzen Schaustücke voneinander ab, bilden eine neutrale Folie für unterschiedliche Figuren und stiften formale Einheit. Darüber hinaus haben sie eine dezent illustrative Funktion. Im ersten Teil der Ausstellung erinnern die hintereinander gestaffelten Scheiben an ein Register oder an Buchseiten, in der Märchenabteilung lichtet sich die Struktur und wirkt dank gezackter Ränder wie die Silhouette eines Walds.
Einsichten und Erkenntnisse
Insgesamt bildet das System einen flexiblen und ästhetisch reizvollen Rahmen für eine Ausstellung, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen anspricht.
Überraschende Einsichten und Erkenntnisse vermittelt die Schau auf Schritt und Tritt. Bei »Ärschlein« bombardiert ein Schimpfwortgenerator die Besucher mit Kraftworten von »Bumbs« bis »Pissblume«. In der Station gleich gegenüber dreht es sich um das von den Brüdern Grimm begonnene, aber nur bis zum Stichwort »Froteufel« selbst redigierte Mammutprojekt »Deutsches Wörterbuch«. Im Fokus stehen hier Bildkästen mit Papierkunstwerken von Alexej Tchernyi, die zauberhafte Einblicke in die Genese des erst 1971 abgeschlossenen Werks gewähren. Eine Etage tiefer stößt man in der »Dornenhecke« auf einen sprechenden Spiegel, in einem gespenstischen Hexenhaus auf einen riesenhaften Punchingball und in einer Videobox auf den Filmemacher Alexander Kluge, der anregend übers »Glück« parliert. Darüber hinaus machen wispernde Bäume und spannende Filme den Aufenthalt in der Märchenwelt zum Erlebnis. Die biografische Abteilung schließlich wartet u. a. mit einem über 5 m langen Bilder-Leporello auf, in dem Ludwig Emil Grimm die Lebensgeschichte einer liebenswerten Sau nachgezeichnet hat.
Kunstwerke von Ai Weiwei, Ecke Bonk, Lutz & Guggisberg und anderen ergänzen das Repertoire der Denkwürdigkeiten. Dass Architekten, Kuratoren und Ausstellungsgestalter ihre Arbeit gut gemacht haben, zeigt nicht zuletzt der überwältigende Publikumserfolg. »So viele Menschen wie zuletzt hatten sich seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem Kasseler Balkon mit Blick über die Südstadt aufgehalten«, meldete die Regionalzeitung HNA Anfang April. »Grund für diese Entwicklung ist die Grimmwelt, die sieben Monate nach ihrer Eröffnung den 100 000. Besucher begrüßt.«
Anderswo gibt es andere Highlights. Mal sind es alte, vergilbte Bücher, mal historische Zeichnungen und Objekte, mal moderne Skulpturen und Installationen.
Auch Filme, Hologramme und Dioramen fügen sich harmonisch in den gestalterischen Rahmen, den das Kuratorinnen-Team um Annemarie Hürlimann und Nicola Lepp sowie die Ausstellungsdesigner Holzer Kobler Architekturen geschaffen haben.
Den meisten Inszenierungen der Grimmwelt liegen naturgemäß Texte zugrunde. Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Grimm (1786-1859) haben Berge beschriebenen Papiers hinterlassen, und ein gewichtiger Teil dieser Zettel, Kladden, Dossiers und Bücher ist in Kassel entstanden. Dort haben die in Hanau geborenen Brüder zwischen 1798 und 1829 gelebt. Dort trugen sie auch den Grundstock ihrer weltberühmten Märchensammlung zusammen, betrieben umfangreiche germanistische Studien und publizierten Bücher über Sagen, Runen und Rechtsaltertümer. Die Ausstellung berücksichtigt jedoch nicht nur die Kasseler Zeit der Brüder, sondern auch ihr späteres Wirken in Göttingen und Berlin, wobei die gemeinsame Arbeit am »Deutschen Wörterbuch« einen Schwerpunkt bildet. Reiches biografisches Anschauungsmaterial steuert ein dritter, heute zu Unrecht kaum noch beachteter Bruder Grimm bei: Ohne die Zeichnungen und Bilder des Malers Ludwig Emil Grimm (1790-1863), der an der Kasseler Kunstakademie lehrte, wäre die Schau um einige ihrer schönsten Exponate ärmer.
Der Rahmen des Rahmens
Attraktiv ist indes nicht nur der Inhalt der Grimmwelt. Schon das landschaftliche und architektonische Drumherum lohnt den Besuch. Das vom Aachener Büro kadawittfeldarchitektur entworfene, 2015 fertiggestellte Museumsgebäude steht in einem malerischen Park nahe der Kasseler Innenstadt. Steintreppen, Mauerfragmente und Pergolen prägen die Atmosphäre der Grünanlage am Hang des Weinbergs. Der neue Baukörper verstellt diese Kulisse nicht, sondern bereichert sie.
Betont wird die Zugehörigkeit durch die weitgehend geschlossene Bruchsteinhülle, die abgetreppte Kubatur und eine Funktionalität, die über das bloße Einhausen eines Inhalts weit hinausgeht: Als öffentlich zugängliche Treppenanlage, die ihren Abschluss in der Aussichtsterrasse auf dem Dach findet, gehört das Gebäude gewissermaßen schon zur Ausstellungsarchitektur, führt es den Besuchern doch die Landschaft vor Augen, in der die Brüder einmal zu Hause waren.
Im Innern erstreckt sich ein zentrales Foyer vom Eingang bis zu einem lichtdurchfluteten Café mit Panoramablick auf die Kasseler Karlsaue. Gegenüber dem offenen Museumsshop in der Mitte des Foyers gewährt eine Galerie Einblick in die tiefer gelegene Split-Level-Ebene. An die Rückwand dieses »Auftraktraums« projizierte Wörter markieren den Übergang in die eigentliche Grimmwelt. Die Galerie war ursprünglich nicht vorgesehen. Man habe »die Lösung gemeinsam mit den Architekten und den Kuratorinnen erarbeitet«, sagt die bei Holzer Kobler für das Projekt verantwortliche Planerin Simone Haar. Auch anderenorts wurden Raumstrukturen an die Wünsche der Ausstellungsgestalter angepasst. Beispielsweise entstanden statt der geplanten Ausstellungskabinette Großräume mit eigens entwickelter Binnengliederung.
Von Ärschlein bis Zettel
Thematisch gliedert sich die Schau in drei Abteilungen. Die erste ist im Zwischengeschoss untergebracht und widmet sich dem philologischen Schaffen der Brüder. Im UG präsentiert sich zunächst die Märchenwelt mit einer Fülle medialer Inszenierungen und abschließend die biografische Abteilung, die unter anderem mit Skizzen von Ludwig Emil Grimm aufwartet. Das eigentliche Ausstellungskonzept leiteten die Kuratorinnen aus dem Grimmschen Sprachkosmos ab: Ein Glossar, dessen Stichwörter dem »Deutschen Wörterbuch« entnommen wurden, ordnet den Stoff und weist den Weg durch die Schau. Insgesamt gibt es 25 Haltepunkte, die durch Leuchtbuchstaben von A bis Z gekennzeichnet sind, aber nicht der alphabetischen Ordnung folgen. Der Rundgang beginnt bei »Zettel«, führt über »Buch« und »Froteufel« zu »Ärschlein« und verläuft sich eine Treppe tiefer in der »Dornenhecke«, in »Cassel« oder im »Glück«.
Mit »Zettel« hat es eine besondere Bewandtnis. »All ihre Ideen, Geschichten und Gedanken notierten die Brüder Grimm auf kleine Stücke Papier, die sie sortierten und schließlich zu Werken mit völlig konträrem Charakter zusammenfügten«, sagt Simone Haar. »Diese komplexe Strategie mit ihren unendlichen Möglichkeiten fesselte uns und wurde zum Gestaltungsprinzip der Ausstellung.« Die Grundidee manifestierte sich als ein System aus papierartigen Wandscheiben. Die Anmutung rührt von dünnen, transluzenten Glasfaserplatten her, die beidseitig auf Metallgestelle geschraubt wurden. Die Scheiben zonieren Räume, schlucken Geräusche, grenzen Schaustücke voneinander ab, bilden eine neutrale Folie für unterschiedliche Figuren und stiften formale Einheit. Darüber hinaus haben sie eine dezent illustrative Funktion. Im ersten Teil der Ausstellung erinnern die hintereinander gestaffelten Scheiben an ein Register oder an Buchseiten, in der Märchenabteilung lichtet sich die Struktur und wirkt dank gezackter Ränder wie die Silhouette eines Walds.
Einsichten und Erkenntnisse
Insgesamt bildet das System einen flexiblen und ästhetisch reizvollen Rahmen für eine Ausstellung, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen anspricht.
Überraschende Einsichten und Erkenntnisse vermittelt die Schau auf Schritt und Tritt. Bei »Ärschlein« bombardiert ein Schimpfwortgenerator die Besucher mit Kraftworten von »Bumbs« bis »Pissblume«. In der Station gleich gegenüber dreht es sich um das von den Brüdern Grimm begonnene, aber nur bis zum Stichwort »Froteufel« selbst redigierte Mammutprojekt »Deutsches Wörterbuch«. Im Fokus stehen hier Bildkästen mit Papierkunstwerken von Alexej Tchernyi, die zauberhafte Einblicke in die Genese des erst 1971 abgeschlossenen Werks gewähren. Eine Etage tiefer stößt man in der »Dornenhecke« auf einen sprechenden Spiegel, in einem gespenstischen Hexenhaus auf einen riesenhaften Punchingball und in einer Videobox auf den Filmemacher Alexander Kluge, der anregend übers »Glück« parliert. Darüber hinaus machen wispernde Bäume und spannende Filme den Aufenthalt in der Märchenwelt zum Erlebnis. Die biografische Abteilung schließlich wartet u. a. mit einem über 5 m langen Bilder-Leporello auf, in dem Ludwig Emil Grimm die Lebensgeschichte einer liebenswerten Sau nachgezeichnet hat.
Kunstwerke von Ai Weiwei, Ecke Bonk, Lutz & Guggisberg und anderen ergänzen das Repertoire der Denkwürdigkeiten. Dass Architekten, Kuratoren und Ausstellungsgestalter ihre Arbeit gut gemacht haben, zeigt nicht zuletzt der überwältigende Publikumserfolg. »So viele Menschen wie zuletzt hatten sich seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem Kasseler Balkon mit Blick über die Südstadt aufgehalten«, meldete die Regionalzeitung HNA Anfang April. »Grund für diese Entwicklung ist die Grimmwelt, die sieben Monate nach ihrer Eröffnung den 100 000. Besucher begrüßt.«
Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung
Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkel
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