Bauwerk

Betreutes Wohnen in Baiersbronn
Partner und Partner - Baiersbronn (D) - 2016

Räume zum Atmen

Eine alte Skifabrik und Lagerhalle mit wenigen finanziellen Mitteln so umzubauen, dass eine barrierefreie Wohneinrichtung entsteht, in der zehn intensivpflegebedürftige Kinder sowie alles medizinisch Notwendige für sie und noch dazu zwei Familienapartments Platz finden – das kann für manchen schon Herausforderung genug sein. Dass dabei aber nicht einmal eine Krankenhaus- oder Pflegeheimatmosphäre entsteht, ist dem Gespür und außergewöhnlichen Engagement der Planer und Initiatoren zu verdanken.

5. Dezember 2016 - Christine Fritzenwallner
Mancher Leser mag auf den ersten Blick, was die Auswahl dieses Projekts betrifft, vielleicht irritiert sein, entspricht das äußere Erscheinungsbild doch eher weniger den sonst üblichen Sehgewohnheiten und nüchterneren Ansichten im Redaktionslieblinge-Heft. Aber dieses Gebäude mit den Maßstäben klassischer Architekturkritik zu beurteilen, wäre ohnehin nicht angebracht. In einem Haus für Kinder, die dauerhaft auf den Rollstuhl, künstliche Beatmung und damit permanent auf die Hilfe anderer angewiesen sind, bestimmen andere Themen den Lebensalltag: Wo überall werden barrierefreie Bereiche benötigt? Wie müssen sämtliche Räume beschaffen und ausgestattet sein, um den hier beschäftigten 34 Vollzeitkräften (für zehn Kinder und Jugendliche von 0-18 Jahren) die Arbeit zu erleichtern? Können die Eltern ihren Kindern kurzzeitig oder bei Bedarf auch längerfristig räumlich nahe sein? Aber v. a. auch: Kann man überhaupt den medizintechnischen Anforderungen gerecht werden, ohne Assoziationen zu einem Krankenhaus oder Pflegeheim hervorzurufen?

Vom Dornröschenschlaf zum »Luftikus«

Man kann. Dass bei all diesen Fragen das Atmosphärische und die Ästhetik nicht zu kurz kamen, ist hauptsächlich Birgit Stiletto zu verdanken. Die ausgebildete Krankenpflegerin und studierte Innenarchitektin war es, die das ­Projekt Luftikus ins Leben gerufen hat. Gemeinsam mit ihrem Mann, einem Kinderneurologen und »Impulsgeber«, so Birgit Stiletto, gründete sie zunächst einen Verein und machte eine Bedarfsanalyse in ganz Deutschland: ­Damit ließ sich die in den vergangenen Jahren aufgrund des medizinischen Fortschritts zunehmende Anzahl von Kindern abschätzen, die nach Unfällen oder z. B. durch eine problematische (Früh-)Geburt zwar am Leben erhalten, aber nicht selbst atmen und essen können und intensivpflegebedürftig sind. Der damals einzigen Einrichtung in Baden-Württemberg für beatmete Kinder wollten sie schließlich eine weitere hinzufügen, und so suchten sie im Schwarzwald nach einem geeigneten Grundstück und Bauwerk zur Umnutzung: Geeignet v. a. insofern, als dass es viel ebenerdige Freifläche bietet, um auch eine rollstuhlgerechte Gartenanlage zu schaffen und im ­Innern wenige bauliche Hürden bezüglich Barrierefreiheit entstehen.

Eine ehemalige Skifabrik, die zuletzt nur noch als Lagerhalle für Landmaschinen diente und schließlich leer stand, erschien hierfür passend. Nach der Gründung des Vereins Luftikus gelang es der Bauherrin, Klaus ­Günter von Partner und Partner Architekten, die in der Umgebung bereits ­einige beachtenswerte Bauten mit Holz realisiert hatten, hinzuzuziehen. Beide waren sich von Anfang an einig: Von dem idyllisch oberhalb des Ortskerns gelegenen, scheinbar in einen »Dornröschenschlaf« verfallenen Gebäude, so Günter, ­sollte möglichst viel erhalten bleiben und mit vorwiegend natürlichen Baustoffen ergänzt werden. Nur der Bauzustand der früher in Teilen errichteten Fachwerkfabrik machte einen Strich durch die Rechnung: zu marode die alte Konstruktion im zur Straße hin befindlichen Gebäudeteil, zu unwirtschaftlich und teuer seine Erhaltung und noch dazu ein unterirdischer, wenn auch versiegelter Bachlauf ... Der vordere Teil zur Straße hin wurde schließlich neu ­errichtet. Im hinteren, südlichen Teil zeigt sich indes noch die alte Bausubstanz mit dicken Stützen vor den neu davor errichteten Wänden. An seiner Frontseite wurde ein Teil der Fassade neu verschindelt; zusammen mit der dunklen, durch die Sonne gealterten Holzschalung darüber und der sicht­baren alten Fachwerkwand daneben verleihen sie der vorgelagerten Terrasse Charme und ­Atmosphäre.

Die anderen Fassadenseiten ebenfalls zu verschindeln, wie im früheren Zustand, hätte jedoch die Kosten erheblich in die Höhe getrieben – was sich ­hinsichtlich der vielen beteiligten Spendengeber nicht verantworten ließ. ­Bezüglich der nun gewählten, vertikalen Fichten- und Tannenholzschalung orientierten sich die Planer an alten Wirtschaftsgebäuden in der Umgebung mit ­ihren Boden-Deckel-Schalungen unterschiedlicher Breiten. Sie hellbeige zu lackieren, ist zwar ebenso ortstypisch, lässt diese Fassaden aber gegenüber der Südfront unnatürlicher erscheinen. Trotzdem: Hell und freundlich sollte sie auf Besucher und Bewohner wirken, und das tut sie.

Gelungene Kombinationen

Ursprünglicher wird es dafür wieder im Innern: Hier zieht sich im EG der alte aus dem DG ausgebaute Dielenboden als Deckenuntersicht und in Funktion einer Akustikdecke durch die breiten Gänge. Auch wurden alte Türen ausgebaut, restauriert und an anderen Stellen wieder eingebaut, ein alter Schlitten, Skier und die alten Letter der Skifabrik-Morlok als Decken-/Wanddekoration eingesetzt und auf Flohmärkten gesammelte, bemalte Bauernschränke sparsam den Räumen hinzugefügt.

Und etwas »Luxus«, so Stiletto, konnte man dennoch verbauen: Etwa die teils gespendeten Douglasie-Massivholzdielen oder (nun dreifachverglaste) Holzsprossenfenster. Auch weitere, hochwertige Materialien wie z. B. die Einblasdämmung aus Holzfasern, Armaturen, Beschläge oder Leuchten wurden, wenn nicht gespendet, dann von Firmen rabattiert zur Verfügung gestellt. So auch die Farben, die Stiletto mit gutem Gespür zu einem ausgewogenen Farbkonzept kombinierte: pastellene Farbflächen in Lindgrün oder in kräftigerem Grün, etwa im Klangraum im UG, wechseln mit hellblauen Oberflächen und Tapeten oder auch mit einem mittleren Blau (Familienapartment im OG) und ergänzen die erdig-warmen Grundfarbtöne der restlichen Wände und Decken.

Allein das Aufzuginnere sticht in grellem Weiß hervor – noch, denn das will die Innenarchitektin von einem Künstler überarbeiten lassen. Sie war es auch, die darum kämpfte, dass nicht nach Krankenhausverordnung ausgeführt werden musste. Daher wirken die Kinderzimmer, trotz aller notwendigen Medizintechnik (die auf den Architekturfotografien nicht zu erkennen ist), und das gesamte Haus wohnlich und behaglich. Sämtlichen Apparaturen für die Beatmungstechnik, Notleuchten usw. konnte sie durch die Auswahl des Mobiliars »starke Kontraste« entgegensetzen. Ein Glück, dass es auch Pflegebetten aus Holz gibt, deren Rausfallschutz folglich nicht aus den von anderen Kinderkrankenstationen bekannten, gefängnisartig anmutenden Gittern besteht. Dass allein ein solches Bett jedoch mit über 5 500 Euro zu Buche schlägt, verdeutlicht, wie sehr man bei dem zu ca. 40 % spendenfinanzierten Projekt auf karitative Zuschüsse, ­Privatspenden größerer und kleinerer Institutionen und auch Eigenleistungen in Form unbezahlter Arbeitseinsätze angewiesen war – etwa einer Vereinigung von Raumausstattern, die einen Tag lang das ganze Haus einkleidete.

Hoch war aufgrund des Patientenüberwachungssystems auch der Aufwand für die zahlreichen Elektro- und Datenleitungen, die wegen der hohen Brandschutzauflagen bei sämtlichen Durchführungen und Brandschutzschotts besonders berücksichtigt werden mussten.

Herz und Seele

Während im UG u. a. Therapieräume und Nebenräume für das Personal vorhanden sind, befinden sich im OG hauptsächlich zwei rund 70 m² große Familienapartments, auch hier mit je einem Pflegebett für Kinder in Kurzzeitpflege. In diesen beiden Etagen, genauer im Keller und im Dach des alten Gebäudeteils, birgt der Luftikus noch Ausbaupotenzial. Das voll ausgebaute EG hingegen beherbergt sämtliche Patientenzimmer – zwei als Doppel- und die restlichen als Einzelzimmer konzipiert –, Bereitschaftszimmer, Bäder und schließlich das Herz des Ganzen, die gute Stube: In der ehemaligen alten Werkhalle bot es sich an, einen großen Essraum mit angeschlossener, offener Küche und vorgeschaltetem Wintergarten zu schaffen – in dessen abgehängter Sofaschaukel alle Insassen, ob klein oder groß, die Seele baumeln lassen können.

Anerkennung

Wie kann ich meinen Angehörigen trotz Krankheit und Behinderung das ­Leben noch so angenehm und erträglich wie möglich machen? Wo würde ich selbst im pflegebedürftigen Alter leben wollen? Mit solchen Fragen, die die meisten Menschen so lange es geht vor sich herschieben, sind jene Eltern konfrontiert, deren Kinder nun im Luftikus ihr Zuhause haben. Diesen Familien, deren prekäre Lebenssituation sich ohnehin nicht in wenigen Worten beschreiben lässt – die emotionale Seite für jene, die ihr Kind hier komplett in die Obhut anderer übergeben müssen, weil sie es alleine nicht betreuen können, einmal ganz außen vorgelassen –, bietet der Luftikus etwas Trost: indem die sonst gewohnte Krankenhausatmosphäre fast schon einer Urlaubsatmosphäre im »Wohlfühlhotel« weicht. Das bedeutet: Durchatmen für die Eltern. Kraft schöpfen. Sich zuhause fühlen, wenn ein Zuhause im klassischen Sinn nicht mehr möglich ist. Und als Außenstehende jenen Menschen Respekt zollen, die das Projekt mit derlei Eigeninitiative, Engagement oder Spenden überhaupt erst ermöglicht haben.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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