Bauwerk
Arvo Pärt Centre
Nieto Sobejano - Laulasmaa (EW) - 2018
Zwischen Kiefern, in Küstennähe
Arvo-Pärt-Zentrum in Laulasmaa (EST)
In einem Waldgebiet außerhalb von Tallinn wurde im Oktober das Arvo-Pärt-Zentrum eröffnet. Das niedrige, versteckt zwischen Bäumen liegende Gebäude birgt das Archiv des Komponisten, eine Bibliothek sowie einen Veranstaltungssaal und funktioniert bereits jetzt als gerne angesteuertes Ausflugsziel und als Ort der Begegnung — für Leute von nah und fern.
3. Dezember 2018 - Ulrike Kunkel
»Tabula Rasa«, produziert von Manfred Eicher, erschien 1984. Die Platte bedeutete den internationalen Durchbruch für den 1935 geborenen Komponisten, der vier Jahre zuvor aus der Estnischen Sowjetrepublik emigriert und über Wien mit einem Stipendium nach Berlin gelangt war: Arvo Pärt. »Tintinnabuli« nannte Pärt den Stil, den er in den Jahren zuvor entwickelt hatte und der seine Werke unverkennbar macht. Der Titel Tabula Rasa war programmatisch zu verstehen, denn zur Melodiestimme tritt lediglich eine zweite Stimme aus Dreiklängen, durch die der für den Komponisten typische glockenartige und suggestive Sound entsteht. Verfechtern der Neuen Musik, die gemeinhin die Abkehr von der Tonalität als Grundkonsens ansehen, war die Pärt‘sche Melodik und Harmonik stets in höchstem Maße verdächtig, zumal ihr Schöpfer noch in der UdSSR in die orthodoxe Kirche eingetreten war. Dessen ungeachtet gelang Pärt etwas, was ihnen versagt blieb: Seine langsamen und meditativ anmutenden Klänge, die von ostkirchlicher Spiritualität beseelt zu sein scheinen, sind fast populär geworden; Arvo Pärt gilt als der meistaufgeführte zeitgenössische Komponist.
Mehrere Jahrzehnte befand sich sein Lebensmittelpunkt in Berlin, bis er sich um das Jahr 2000 entschloss, in seine inzwischen unabhängige Heimat Estland, in die Gegend von Laulasmaa, 35 km westlich von Tallinn, zurückzukehren. Auch sein umfangreiches Archiv wurde zunächst dort untergebracht. Doch es stellte sich die Frage, was damit langfristig geschehen sollte.
Die Akademie der Künste Berlin, die Pärt als Mitglied aufgenommen hatte, signalisierte Interesse, aber der Komponist wünschte sich einen öffentlicheren Ort ein angesichts des notorisch schwierigen Zugriffs auf Akademie-Archivalien nachvollziehbarer Wunsch. Der Staat Estland brachte sich ins Spiel und es entstand die Idee eines »Arvo Pärt Centre«, mit dem das Land seinen prominentesten lebenden Kulturschaffenden ehrt. Als Bauplatz wählte man ein küstennahes Waldgebiet bei Laulasmaa.
»Perle statt Mammut«
Aus einem Spektrum von 71 Bewerbern waren 20 Architekturbüros 2013 zu einem Wettbewerb eingeladen worden, darunter internationale Prominenz wie Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Henning Larsen, aber auch eine Reihe estnischer Architekten. Das Rennen machte schließlich der Beitrag des spanischen Teams Nieto Sobejano, den die Jury als »humbly iconic« (demütig ikonisch) bezeichnete. »A pearl, not a mammooth« hatte die Vorgabe gelautet, und in den Auslobungsunterlagen fanden sich eine Reihe von Stichworten, die man im zukünftigen Gebäude umgesetzt wissen wollte, darunter: Reinheit, Einfachheit und Radikalität. Ziel sollte ein lebendiges Environment sein, kein Museum. Der Beitrag der Spanier zeigte ein organisch geformtes Gebäude inmitten der Waldlandschaft samt einem dazugehörigen Aussichtsturm. Die Fassaden des Hauptbaus waren ringsum verglast, und aus dem Volumen hatten Nieto Sobejano insgesamt 28 Höfe ausgestanzt. Zweck dieser Innenhöfe war nicht nur die Belichtung des Innern, sie dienten auch dazu, das Fällen von Kiefern zu vermeiden, und somit Architektur und Natur miteinander zu verzahnen. Im Verlauf des Bearbeitungsprozesses hat sich der Entwurf, dessen Tarnname »Tabula Rasa« auf Pärts Schlüsselwerk referiert, verändert und abermals vereinfacht, ohne dass allerdings das Grundkonzept verlorenging. Auf Initiative des Komponisten wurde der Standort leicht verschoben und die Anzahl der Höfe erheblich verringert – sie beträgt nunmehr lediglich sechs. Auch handelt es sich primär um Lichthöfe, denn die eigentlich sympathische Idee, die vorhandenen Kiefern zu erhalten, wurde aufgegeben. In den schier endlosen Kiefernwäldern Estlands dürfte das Fällen einiger Bäume zu verschmerzen sein.
Stützenwald ringsherum
Eine gute Dreiviertelstunde benötigt man mit dem Bus oder dem Auto von Tallinn bis nach Laulasmaa. In einigen Abschnitten verläuft die Straße entlang der Küste, doch die meiste Zeit führt sie durch Wälder – Besiedlung gerät kaum in den Blick, sobald man den Großraum Tallinn einmal verlassen hat.
Immer noch mitten im Wald, leitet ein Wegweiser von der Straße zum Parkplatz, und auf einem Fußweg zwischen Kiefern und Heidelbeersträuchern gelangt man in wenigen Minuten zum Arvo-Pärt-Zentrum. Dieses besitzt einen polygonalen Grundriss mit abgerundeten Ecken und wird von einer Dachstruktur aus Blechstreifen überfangen, die von der Eingangsseite aus gesehen leicht ansteigt und rückwärtig wieder abfällt. Durch die Einbuchtung im Süden und den Mitarbeiterparkplatz im Osten deutet sich ein Vorne und ein Hinten an, doch das äußere Tragwerk der Fassade, bestehend aus Stahlstützen unterschiedlichen Durchmessers und in unterschiedlichem Abstand gesetzt, umgibt das frei im Wald stehende Bauwerk auf allen Seiten. Die Stützen ruhen auf einem schmalen, mit sibirischer Lärche beplankten Sockel, der im Vorbereich des Cafés zu einer Terrasse ausgeweitet ist. Die verglaste Fassade tritt hinter die Stützenstruktur zurück, der obere Teil wurde abweichend vom ursprünglichen Entwurf mit dunkel gebeiztem Kiefernholz bekleidet. Optisch verbinden sich die Rundstützen mit den Baumstämmen. Die Architekten verweisen auch auf Taktstriche. Natürlich darf man diese Bezüge nicht zu direkt verstehen, denn es handelt sich bei dem filigranen, sich in die Fläche ausdehnenden Volumen, nicht – die beinahe inflationär gebrauchte Metapher sei hier noch einmal zitiert – um »gefrorene Musik«, auch wenn Nieto Sobejano in einem Ende 2017 erschienenen Katalog der Architekturgalerie Aedes Pläne ihres Gebäudes mit der Notation von Tabula Rasa überlagerten, sondern um ein eher pavillonartig wirkendes Gebilde.
Der informelle, fast fließende Charakter des Gebäudes setzt sich auch im Innern fort. Vom Foyer mit Empfangstresen gelangt man entlang der Garderobe zum Café und dem Pädagogikbereich. Geht man nach links in die Tiefe des Gebäudes, so passiert man einen kleinen Filmsaal, in dem alle halbe Stunde eine Einführung zu Leben und Werk von Pärt gezeigt wird, und weiter zu einem Auditorium mit 140 Plätzen, das regelmäßig für Konzerte, Vorträge und andere Veranstaltungen genutzt wird. Daran schließt sich südwestlich die öffentlich zugängliche Bibliothek an, von der aus man durch die Ausstellungsbereiche wieder zurück Richtung Foyer gelangt. Das eigentliche Archiv bildet das Herzstück des für die Besucher nicht zugänglichen Administrationsbereichs im Südwesten des Baukörpers.
Gegliedert und differenziert wird die Raumfolge durch die Höfe, die auf fünfeckigen Grundrissen aufbauen. Deren größter besteht aus drei zu einem Kontinuum verbundenen Fünfecken und birgt eine schlichte orthodoxe Kapelle.
Gewissermaßen die Umkehrung der eingeschnittenen Fünfecke ist der ebenfalls auf einem fünfeckigen Grundriss aufbauende und separat vor der Westseite des Gebäudes stehende Aussichtsturm, der ab nächstem Frühjahr geöffnet ist. Pärt versteht ihn als Zeichen der Transzendenz, als Symbol der Verbindung von Himmel und Erde. Steht man oben, so geht der Blick bis zum nahen Meer. Die Küstennähe prägt das Gebiet um Laulasmaa, mit dem der Komponist seit Langem verbunden ist. Zu Sowjetzeiten besaßen Komponisten und andere Vertreter der Intelligenzija vorzugsweise hier ihre Sommerhäuser. So auch Heino Eller, seinerzeit Lehrer am Tallinner Konservatorium. Er brachte Freunde und Bekannte mit in diese abgeschiedene Gegend – darunter eben auch seinen Studenten Arvo Pärt.
Die Liebe zur estnischen Landschaft mit ihren endlosen Wäldern und den fast menschenleeren Küsten war es, die Pärt bewog, in diesem Umfeld nicht nur sein Domizil zu beziehen, sondern auch das Musikzentrum mit seinem Nachlass errichten zu lassen. Und die Lage inmitten des Waldes ist es auch, die den besonderen Reiz des Gebäudes ausmacht. Das Erlebnis des Orts haben die Architekten gekonnt in Szene gesetzt. Auf die nordische Landschaft antworten sie mit einem Bauwerk, dessen organische Formen nicht zuletzt an Alvar Aalto erinnern. Man hält sich gerne hier auf, auch wenn es gar nicht viel an Exponaten zu sehen gibt; blättert in der Bibliothek in Büchern, genießt die Abendstimmung im Café und geht dann vom Duft der Kiefern umgeben zurück zum Parkplatz oder zur Bushaltestelle, um entspannt die Rückreise anzutreten.
Mehrere Jahrzehnte befand sich sein Lebensmittelpunkt in Berlin, bis er sich um das Jahr 2000 entschloss, in seine inzwischen unabhängige Heimat Estland, in die Gegend von Laulasmaa, 35 km westlich von Tallinn, zurückzukehren. Auch sein umfangreiches Archiv wurde zunächst dort untergebracht. Doch es stellte sich die Frage, was damit langfristig geschehen sollte.
Die Akademie der Künste Berlin, die Pärt als Mitglied aufgenommen hatte, signalisierte Interesse, aber der Komponist wünschte sich einen öffentlicheren Ort ein angesichts des notorisch schwierigen Zugriffs auf Akademie-Archivalien nachvollziehbarer Wunsch. Der Staat Estland brachte sich ins Spiel und es entstand die Idee eines »Arvo Pärt Centre«, mit dem das Land seinen prominentesten lebenden Kulturschaffenden ehrt. Als Bauplatz wählte man ein küstennahes Waldgebiet bei Laulasmaa.
»Perle statt Mammut«
Aus einem Spektrum von 71 Bewerbern waren 20 Architekturbüros 2013 zu einem Wettbewerb eingeladen worden, darunter internationale Prominenz wie Zaha Hadid, Coop Himmelb(l)au und Henning Larsen, aber auch eine Reihe estnischer Architekten. Das Rennen machte schließlich der Beitrag des spanischen Teams Nieto Sobejano, den die Jury als »humbly iconic« (demütig ikonisch) bezeichnete. »A pearl, not a mammooth« hatte die Vorgabe gelautet, und in den Auslobungsunterlagen fanden sich eine Reihe von Stichworten, die man im zukünftigen Gebäude umgesetzt wissen wollte, darunter: Reinheit, Einfachheit und Radikalität. Ziel sollte ein lebendiges Environment sein, kein Museum. Der Beitrag der Spanier zeigte ein organisch geformtes Gebäude inmitten der Waldlandschaft samt einem dazugehörigen Aussichtsturm. Die Fassaden des Hauptbaus waren ringsum verglast, und aus dem Volumen hatten Nieto Sobejano insgesamt 28 Höfe ausgestanzt. Zweck dieser Innenhöfe war nicht nur die Belichtung des Innern, sie dienten auch dazu, das Fällen von Kiefern zu vermeiden, und somit Architektur und Natur miteinander zu verzahnen. Im Verlauf des Bearbeitungsprozesses hat sich der Entwurf, dessen Tarnname »Tabula Rasa« auf Pärts Schlüsselwerk referiert, verändert und abermals vereinfacht, ohne dass allerdings das Grundkonzept verlorenging. Auf Initiative des Komponisten wurde der Standort leicht verschoben und die Anzahl der Höfe erheblich verringert – sie beträgt nunmehr lediglich sechs. Auch handelt es sich primär um Lichthöfe, denn die eigentlich sympathische Idee, die vorhandenen Kiefern zu erhalten, wurde aufgegeben. In den schier endlosen Kiefernwäldern Estlands dürfte das Fällen einiger Bäume zu verschmerzen sein.
Stützenwald ringsherum
Eine gute Dreiviertelstunde benötigt man mit dem Bus oder dem Auto von Tallinn bis nach Laulasmaa. In einigen Abschnitten verläuft die Straße entlang der Küste, doch die meiste Zeit führt sie durch Wälder – Besiedlung gerät kaum in den Blick, sobald man den Großraum Tallinn einmal verlassen hat.
Immer noch mitten im Wald, leitet ein Wegweiser von der Straße zum Parkplatz, und auf einem Fußweg zwischen Kiefern und Heidelbeersträuchern gelangt man in wenigen Minuten zum Arvo-Pärt-Zentrum. Dieses besitzt einen polygonalen Grundriss mit abgerundeten Ecken und wird von einer Dachstruktur aus Blechstreifen überfangen, die von der Eingangsseite aus gesehen leicht ansteigt und rückwärtig wieder abfällt. Durch die Einbuchtung im Süden und den Mitarbeiterparkplatz im Osten deutet sich ein Vorne und ein Hinten an, doch das äußere Tragwerk der Fassade, bestehend aus Stahlstützen unterschiedlichen Durchmessers und in unterschiedlichem Abstand gesetzt, umgibt das frei im Wald stehende Bauwerk auf allen Seiten. Die Stützen ruhen auf einem schmalen, mit sibirischer Lärche beplankten Sockel, der im Vorbereich des Cafés zu einer Terrasse ausgeweitet ist. Die verglaste Fassade tritt hinter die Stützenstruktur zurück, der obere Teil wurde abweichend vom ursprünglichen Entwurf mit dunkel gebeiztem Kiefernholz bekleidet. Optisch verbinden sich die Rundstützen mit den Baumstämmen. Die Architekten verweisen auch auf Taktstriche. Natürlich darf man diese Bezüge nicht zu direkt verstehen, denn es handelt sich bei dem filigranen, sich in die Fläche ausdehnenden Volumen, nicht – die beinahe inflationär gebrauchte Metapher sei hier noch einmal zitiert – um »gefrorene Musik«, auch wenn Nieto Sobejano in einem Ende 2017 erschienenen Katalog der Architekturgalerie Aedes Pläne ihres Gebäudes mit der Notation von Tabula Rasa überlagerten, sondern um ein eher pavillonartig wirkendes Gebilde.
Der informelle, fast fließende Charakter des Gebäudes setzt sich auch im Innern fort. Vom Foyer mit Empfangstresen gelangt man entlang der Garderobe zum Café und dem Pädagogikbereich. Geht man nach links in die Tiefe des Gebäudes, so passiert man einen kleinen Filmsaal, in dem alle halbe Stunde eine Einführung zu Leben und Werk von Pärt gezeigt wird, und weiter zu einem Auditorium mit 140 Plätzen, das regelmäßig für Konzerte, Vorträge und andere Veranstaltungen genutzt wird. Daran schließt sich südwestlich die öffentlich zugängliche Bibliothek an, von der aus man durch die Ausstellungsbereiche wieder zurück Richtung Foyer gelangt. Das eigentliche Archiv bildet das Herzstück des für die Besucher nicht zugänglichen Administrationsbereichs im Südwesten des Baukörpers.
Gegliedert und differenziert wird die Raumfolge durch die Höfe, die auf fünfeckigen Grundrissen aufbauen. Deren größter besteht aus drei zu einem Kontinuum verbundenen Fünfecken und birgt eine schlichte orthodoxe Kapelle.
Gewissermaßen die Umkehrung der eingeschnittenen Fünfecke ist der ebenfalls auf einem fünfeckigen Grundriss aufbauende und separat vor der Westseite des Gebäudes stehende Aussichtsturm, der ab nächstem Frühjahr geöffnet ist. Pärt versteht ihn als Zeichen der Transzendenz, als Symbol der Verbindung von Himmel und Erde. Steht man oben, so geht der Blick bis zum nahen Meer. Die Küstennähe prägt das Gebiet um Laulasmaa, mit dem der Komponist seit Langem verbunden ist. Zu Sowjetzeiten besaßen Komponisten und andere Vertreter der Intelligenzija vorzugsweise hier ihre Sommerhäuser. So auch Heino Eller, seinerzeit Lehrer am Tallinner Konservatorium. Er brachte Freunde und Bekannte mit in diese abgeschiedene Gegend – darunter eben auch seinen Studenten Arvo Pärt.
Die Liebe zur estnischen Landschaft mit ihren endlosen Wäldern und den fast menschenleeren Küsten war es, die Pärt bewog, in diesem Umfeld nicht nur sein Domizil zu beziehen, sondern auch das Musikzentrum mit seinem Nachlass errichten zu lassen. Und die Lage inmitten des Waldes ist es auch, die den besonderen Reiz des Gebäudes ausmacht. Das Erlebnis des Orts haben die Architekten gekonnt in Szene gesetzt. Auf die nordische Landschaft antworten sie mit einem Bauwerk, dessen organische Formen nicht zuletzt an Alvar Aalto erinnern. Man hält sich gerne hier auf, auch wenn es gar nicht viel an Exponaten zu sehen gibt; blättert in der Bibliothek in Büchern, genießt die Abendstimmung im Café und geht dann vom Duft der Kiefern umgeben zurück zum Parkplatz oder zur Bushaltestelle, um entspannt die Rückreise anzutreten.
Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung
Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkel