Bauwerk

Zwei Hofgebäude
Stefan Tenhalter - Wien (A) - 2018
Zwei Hofgebäude, Foto: Alexander Krischner
Zwei Hofgebäude, Foto: Alexander Krischner
Zwei Hofgebäude, Foto: Alexander Krischner

Das Leben der Dinge

Umbau und Umnutzung: So lauten nicht nur die Vernunftgebote der Stunde. Daraus könnte eine Haltung werden, die Architektur aus Architektur gewinnt. Eine kurze Umschau und ein rares Beispiel aus Wien.

4. Mai 2019 - Albert Kirchengast
Architektur ist kein Kostüm, das man sich überzieht, sie will auch nicht nackt bleiben. Man müsste wieder dazu übergehen, einfache, aber solide historische Bauten zu „lesen“. Konkrete Elemente, zu einem Werk gefügt. Ein motivisches Repertoire, seine Angemessenheit immer wieder zu prüfen, seine Formen für die Gegenwart zu adoptieren. Das ist das Wissen der Architektur. Solch genaues Schauen würde womöglich die unzureichende Qualität vor Augen führen, mit der wir uns heute begnügen. Der analytische Verstand reicht indes nicht aus, um Architektur zu begreifen. Vor der Sprachlichkeit von Architektur liegt ihr lebensweltliches Dasein, in dem Bauten und Bewohner aufeinandertreffen, in dem sich der Architekt vorerst nur als aufmerksamerer Teilnehmer erweist. Erst im Entwurf erkundet er den Zusammenhang der Dinge.

Eine zugrunde liegende Ausdrucks- und Empfindungslehre war womöglich das latente Projekt der Moderne: „Die Materie muss wieder vergöttlicht werden. Die Stoffe sind geradezu mystische Substanzen. Wir müssen tief und ehrfürchtig staunen, dass etwas Ähnliches überhaupt geschaffen wurde“, meint Adolf Loos 1924 in seinem Text „Über die Sparsamkeit“. Allerdings ging es dem Kulturjournalisten und „Semperianer“ Loos in seiner Artikelserie für die „Neue Freie Presse“ zudem um die Nobilitierung des Materials durch Konstruktion. Ein Gebäude vereine beides in seiner „geistigen Wirkung“, auf die man sich einmal verständigt hat: die Fröhlichkeit einer Trinkstube, Pietät beim Grabmal oder im Wohnhaus das „Heimgefühl“. Die Tätigkeit des Architekten setzt demnach die Kenntnis erfahrener Raumwirkungen voraus und stellt sich als kulturausdeutende Praxis dar. Die entwerferischen Idiosynkrasien des Einzelnen treten beiseite, die „Gemachtheit“ der Artefakte verschwindet hinter ihrer „Lebendigkeit“, hinter der „Widerständigkeit“ der Dinge. „Dinge“?

Solche Überlegungen führen geradewegs in die architektonische Gegenwart. Brett Steele hat an der Londoner AA kürzlich vom „New English“ gesprochen, um Tom Emersons Werk oder jenes seiner bekannteren Kollegen Tony Fretton, Caruso St John und Sergison Bates zu charakterisieren. Eine Zusammenschau dieser Positionen wäre noch zu leisten. Sie zählen zu einer anderen Moderne, die etwa zu den Smithsons, zu Frank oder eben Loos zurückverfolgt werden könnte. Jedenfalls geht es ihnen um „Transformation“, nicht Innovation, um Belebung, nicht um Kälte – um ein Hervorbringen aus dem Bestand. Durch die Nähe zur Gegenständlichkeit der Kunst, durch Schulung ihres Empfindens haben diese Architekten anders zu „sehen“ gelernt. Sie haben gelernt, dass Gegenstände Teil eines dichten „Netzwerks“ von an sich unspektakulären Bezügen sind, dass jedoch diese in einem spezifischen Kontext, in Zeit, Geschichte, Materialität und „Patina“ verankert sind. Ja, vielleicht sind Altern und Abnützung das entscheidende Kriterium dieser neuen In-Beziehung-Setzung von Gestalt und Gestaltung, Vergangenheit und Gegenwart. Das bedingt freilich Umsicht, denn solche Zusammenhänge sind empfindsam, eröffnen allerdings auch einen Bedeutungsraum, in den man eintreten darf.

Der Wiener Architekt Stefan Tenhalter geht diesen Weg. Anders jedoch als die erwähnten Kollegen, intellektualisiert er seine Haltung nicht. Er ist stärker verhaftet in der Faszination unmittelbar vorgefundener, historischer Situationen – was nicht mit Denkmalpflege verwechselt werden sollte. Aus einer Reihe feiner Umbauten, die in aller Stille in den vergangenen Jahrzehnten entstanden sind, sticht sein kürzlich fertiggestelltes Eigenheim heraus.

Am Rochusmarkt, einst das Zentrum einer alten Wiener Vorstadt, von wo aus die Straßen zum Schlachthof Sankt Marx führten, lag das Geschäft eines Fleischers. Daneben lagen gleichartige, gut proportionierte Häuser, die bis aufs 18. Jahrhundert und weiter zurückgehen: platzbildende Geschäftsfassaden, Längstrakte für Kutschen, Ställe im Quertrakt, Innenhöfe für das Kleinvieh, kurzum: die städtebauliche Grundfigur einer einhüftigen Längsbebauung mit Hofabschluss. Und nicht nur die zuhinterst liegende Gartenoase erfreut hier den Besucher – angesichts der Härte heutiger Stadtwelten. 2004 kauft man den hakenförmigen Hoftrakt, eine „Ruine mit Dachstuhl“. Im Herbst 2018 ist der vorerst letzte Baustein gefügt: 14 Jahre Bauen als Prozess; Entwerfen als langsame Aneignung. Es gab keine technischen Leitungen, keine interne Erschließung, keine Böden, die Fenster waren ein Sanierungsfall. Und doch gebot das Vorhandene Respekt bei der Verwandlung zum Familienheim. Entscheidend für diese Entwurfshaltung: Alles, was taugt, wird erhalten, notfalls ausgebaut, gereinigt, angepasst, wieder eingesetzt. Charme und Einzigartigkeit des Vorgefundenen leiten den Entwurf.

„Den Raum zu bezeichnen ist wichtig“, meint Tenhalter und versucht seinem gestalterischen Selbstverständnis Worte zu verleihen: Ein fensterloser Raum, dessen einziger Vorzug es war, dem Garten zugewandt zu sein, erhält den Namen Gartensalon. Bilder entstehen in den vier Köpfen der Familie und resonieren mit dem Vorhandenen. Ein Ort des Rückzugs für Bücher und Leser mit stillem Bezug zum Garten soll der feuchte Raum werden. Wie könnte man diese Stimmung erreichen: „Gartensalon“? Wie entsteht das Neue im Alten? Die genaue Kenntnis präziser wie basaler architektonischer Mittel wird entscheidend: Eine Stufe zum Mittelflur wäre nötig, um den kontemplativen Rückzugsort sanft abzusetzen; ein Wechsel des Bodenbelags von Ziegel zu Tannendielen; ein zentrierendes, großes Fenster muss schließlich entworfen werden, ein Bay Window aus geöltem Lärchenholz, durch das sich der Raum in den Garten lehnt: das Schmuckstück der freigelegten Ziegelfassade. Entwerfen stellt sich als immer neue Herausforderung dar, ein Abwägen und Einfühlen, ein Maßnehmen und Entscheiden. Ein Plan ist dabei nicht mehr als das abstrakte Hilfsinstrument, denn der Architekt muss sich stets an der Wirklichkeit rückversichern. Auch sein Materialwissen verfeinert sich durch diesen dialogischen Vorgang. Schlagartig liegt vor Augen, wie sich eine Schatztruhe sinnlicher Differenzierungen auftut, wie wenig jedoch die Produkte des Baumarkts dieses Gefühl von „Gebräuchlichkeit“ erwecken, das die Räume des zum Wohnhaus transformierten Wirtschaftsgebäudes heute erfüllt. Erst Zutrauen zum Bestand, Wiederholung und Weiterbauen schaffen solch „dingliche Präsenz“.

Von hier wäre es nicht weit zum Modell eines situativ tätigen Architekten, der im Gespräch mit der unmittelbaren Nachbarschaft tätig würde: in einen „Kreislauf“ von Dingen und Ideen verstrickt. Diese Ökonomie wäre eine Kultur der Pflege und Wartung des Vorhandenen, der Kultivierung des darin angelegten Möglichen. Sie hätte Zukunft, denn die Zukunft des herrschenden Systems steht infrage. Es fragt sich nur, wie lange der Bestand vielschichtiger Dinge noch ausreicht, um diese fortzusetzen – wie im Kleinod am Rochusmarkt.

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