Bauwerk

Universitätsbibliothek Graz
Atelier Thomas Pucher - Graz (A) - 2019
Universitätsbibliothek Graz, Foto: David Schreyer
Universitätsbibliothek Graz, Foto: David Schreyer

Universität Graz: Vom Lesen auf dem fliegenden Teppich

Dass eine Bibliothek ganz im Zeichen von Wissenserwerb und Forschung steht, wird niemanden überraschen. Mit der neu gefassten Grazer Universitätsbibliothek hat man darüber hinaus einen vibrierender Ort der Begegnung geschaffen.

9. Januar 2020 - Karin Tschavgova
Wozu vergrößert man das Raumangebot einer Bibliothek in Zeiten digitaler Megalomanie, in der mehr Informationen auf ein Smartphone passen, als man sich aus den gesammelten Bänden einer Kleinstadtbücherei holen kann? Wer heute Bibliotheken baut, will nicht mehr Speicher für noch mehr Bücher, sondern Orte der Begegnung schaffen. Lesen ist nur eine Option. Was gelesen wird, wird immer häufiger digital zur Verfügung gestellt. Diese weltweiten Trends machen auch vor der Universität als Ort des Forschens nicht halt. 2015 wurde für die Sanierung und Erweiterung der Uni-Bibliothek Graz ein Wettbewerb ausgeschrieben, in dem die „Gesamtbetrachtung der städtebaulichen Situation unter Berücksichtigung von qualitätvollen Außen- und Freiräumen“ verlangt wurde. Aus den 35 Beiträgen stach einer heraus: Signifikanz durch klare Formen und Proportionen wurde von der mutigen Jury mit dem ersten Preis bedacht.

Das Atelier Thomas Pucher aus Graz sah vor, die mehrfach durch Zubauten veränderte Bibliothek aus 1890 radikal zu „bereinigen“. Der Anbau aus den 1970ern im Norden wie der Verbindungsgang zum Hauptgebäude wurden entfernt, die historische Fassade wieder freigelegt. Dem Ring mit dem historischen Lesesaal als Kern wurden zwei Geschoße aufgesetzt – mit gläserner Fuge in guter Grazer Architekturtradition. Der als „fliegender Teppich“ bezeichnete neue Baukörper kragt im Norden weit aus und bildet mit dem Hauptgebäude der Universität in luftiger Höhe eine Fluchtlinie. Darunter entstand, etwas abgehoben von der nun deutlich artikulierten Ost-West-Achse, ein großzügig dimensionierter Platz, der punktgenau der Forderung nach einer städtebaulichen Aufwertung der Freiräume auf dem Campus entspricht.

In verblüffender Präzision wird hier nun die Logik der Wegeführung erkennbar. Dem Durchgang vom Geidorfgürtel folgt mit großer Freitreppe der Weg durchs Areal, die Kreuzung der fußläufigen Verbindungsachsen wird einsehbar und der neu konzipierte, erhöhte Platz mit dem Zugang zur Bibliothek als Terrasse schon in der Annäherung erlebbar. Das zentrale Entree ist als lange gläserne Fuge ausgebildet, die alle Bereiche erschließt. Auch hier gelingt den Architekten, Ordnung und Orientierung zu schaffen. Die Zugänge zur Ausleihe, zum historischen Lesesaal, zur Verwaltung, zu den Aufzügen, zu den neuen Leseplätzen im Schwebebalken und der neue, extern der Universität zur Verfügung stehende Hörsaal sind additiv angeordnet. „Open Access“ auch hier.

Als Herzstück können die differenziert ausgestalteten Lese- und Arbeitszonen in den neuen, obersten Geschoßebenen bezeichnet werden. In luftig-heller Arbeitsatmosphäre entscheidet man sich hier entweder für den akustisch getrennten Leiseraum mit Galerie, der mit langen Tischen und Bildschirmen ausgestattet ist, oder für den intimen Platz in einer Koje an der Längsfront gegenüber der Freihandbibliothek. Es gibt Sitzstufen mit Stromanschluss und eine Lounge mit Sofas, in der sich bequem die neuesten News lesen lassen. Das strahlende Weiß der massiven Stahltragkonstruktion und das dominierende, schöne Rot des Teppichbodens, der die Schritte schluckt und eine visuelle Klammer bildet, sind Muntermacher und wirken auch an einem grauen Wintertag einladend. Im Sommer werden die Plätze auf der nach Süden gerichteten Dachterrasse begehrt sein, doch schon jetzt staunt man über die beinahe volle Belegung der Plätze an einem Samstagvormittag. An dieser Stelle scheint eine Beobachtung angebracht. Vergleicht man die Pläne im Wettbewerbsstadium mit jenen, die nun umgesetzt wurden, so wird klar: Des Architekten zündende Idee – den Bestand entrümpeln und aufwerten durch eine rundum verglaste aufgesetzte Großform – blieb ohne Abstriche erhalten. Das ist im Prozess der Realisierung nicht selbstverständlich. Oft verwässern Kosten- oder Zeitdruck, Anforderungen an Sicherheit, Bauphysik oder anderes eine Idee. Hier nicht. Alles, was sich in der Detailbetrachtung an Unterschieden zeigt, stellt eine Entwicklung zum noch Besseren, Praktikablen dar. Hier wanderten die Treppenhäuser auf die Längsseite, ebenso die Regale für die Freihandaufstellung, und machten Durchblicke und Durchlässigkeit von Nord nach Süd und zwischen den beiden Ebenen möglich. Die Entscheidung, das zentral liegende historische, höchst filigrane Glasdach zu entlasten durch ein weiteres in Überkopfhöhe, brachte nochmals Verbesserung. Die Glasfronten an den Gängen konnten entfallen, ein großzügiges Raumkontinuum entstand.

Dass die neue Bibliothek in ihrer signifikant herausragenden Form der Grazer Universität zum Symbol für Fortschritt gereicht und trotzdem keines jener ikonografischen Monster ist, denen man gerade jetzt, zu Beginn des neuen Jahrzehnts, verächtlich das baldige Aussterben voraussagt, liegt wohl am Arbeitsmotto von Thomas Pucher: „Explore the function. Make it simple. Design with style. Get an icon“ ist auf der Website des Ateliers zu lesen. Zurzeit wird mit Hochdruck an der Ausführungsplanung der Sinfonia-Warsovia-Konzerthalle in Warschau, einem mehr als 100-Millionen-Euro-Projekt, gearbeitet. In solchen Prozessen muss auch Platz sein für die Ideen anderer. War Thomas Pucher, wie man hört, anfangs nicht ganz glücklich über das Projekt „Perspectiva Practica“, mit dem Anna Artaker den „Kunst am Bau“-Wettbewerb der Bibliothek gewann und die große Fläche an der Unterseite der Auskragung gestalten wird, so sieht er der noch folgenden Gestaltung nun mit großer Offenheit entgegen.

Es gibt Kritiker, die bedauern, dass die Bücher in Depots in den Tiefgeschoßen verräumt werden und nicht mehr als schöne Erstausgabe im Mittelpunkt stehen; sie werden lernen, den Wert von neuen öffentlichen Räumen, die Kommunikation und Kooperation fördern, hoch einzuschätzen. Die Gegenwart stellt uns vor so große komplexe Aufgaben, die allein zu lösen wir außerstande sind. Dazu braucht es solche Denkräume, nicht Vereinzel(l)ung. Bestenfalls wird in der Bibliothek der Zukunft, meint der Architekt, nicht nur Wissen abgerufen, sondern in fruchtbarer Vernetzung und Zusammenarbeit auch neues Wissen generiert. Wenn gute Architektur wie diese in Graz solche Prozesse unterstützt, sollte es allen, auch den sich der Tradition verpflichtet fühlenden Skeptikern, recht sein. Analog oder digital ist nicht wirklich eine Frage.

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