Bauwerk
Bijlmer-Quartierparks.
Georges Descombes, Hermann Hertzberger - Amsterdam (NL) - 1992
Der Baum, der alles gesehen hat
Die Frachtmaschine der israelischen El-Al mit vier Personen und fast 115 Tonnen Ladung an Bord legte auf dem Flug LY 1862 von New York nach Tel Aviv in Amsterdam eine Zwischenlandung ein, um aufzutanken.
1. März 2002 - Udo Weilacher
Kurz nach dem Start vom Flughafen Schiphol verlor der Jumbo nacheinander zwei Triebwerke, war wegen beschädigter Landeklappen kaum mehr zu kontrollieren und stürzte um 18 Uhr 35 südöstlich von Amsterdam in die 11-geschossigen Wohnhochhäuser von Bijlmermeer, wo 47 Menschen getötet und viele verletzt wurden.
Gemäss den Grundsätzen des modernen Städtebaus hatte man 1966 die Trabantenstadt in flachem Polderland als «Stadt von morgen» geplant und realisiert, mit grossen Scheibenhochhäusern, die sich um parkartig gestaltete Grünanlagen mit hexagonalen Grundrissen gruppierten. Entgegen den Planungsabsichten mied jedoch die weisse Mittelklasse Amsterdams die neuen Wohnsilos und überliess Bijlmermeer vor allem den Immigranten aus Surinam sowie den Angehörigen von etwa 90 unterschiedlichen schwarzen Bevölkerungsgruppen aus ehemaligen Kolonien der Niederlande. Als die Boeing 747 am 4. Oktober 1992 wie eine Bombe in die Häuserblocks einschlug, traf sie mitten ins Herz einer sozialen Problemzone, die viele abschätzig als «das grösste Ghetto Westeuropas» bezeichneten.
Am Absperrzaun um die Unglücksstelle bekundete schon bald eine wachsende Anzahl von Briefen, Gedichten, Fotos, Blumen, Kränzen und Plüschtieren Trauer und Bestürzung über die unfassbare Katastrophe. Besonders «der Baum, der alles gesehen hat», eine grosse Pappel in der Nähe der Absturzstelle, wurde spontan zum Treffpunkt und zur Gedenkstätte für die Hinterbliebenen. Der stumme grüne Augenzeuge wurde zum berührenden Mittelpunkt eines «wachsenden Denkmals», das vom Genfer Architekten Georges Descombes und vom niederländischen Architekturstudio Herman Hertzberger auf Initiative der Stadtverwaltung in Abstimmung mit den Betroffenen ab Ende 1992 konzipiert wurde.
Allen Beteiligten ging es bei diesem heiklen Projekt von Anfang an darum, auf keinen Fall ein traditionelles Mahnmal zu errichten, das nur einer alljährlichen Zeremonie der Kranzniederlegung dienen würde. Vielmehr sollte der besinnliche Ort dem Bedürfnis nach einer gewissen Ruhe und persönlicher Begegnung dienen, vor allem aber ganz pragmatisch zum Ausgangspunkt einer Wohnumfeldverbesserung im Problemviertel werden.
Das Gesamtkonzept der Architekten basiert auf der Planung eines Quartierparks, der sich weiterentwickeln soll. Im Zentrum des wachsenden Denkmals stehen vier Hauptbestandteile: der Baum und seine direkte Umgebung, die Spur des verwüsteten Gebäudes, die Markierung der zerstörten Wegverbindungen und eine neue Promenade als Rückgrat einer vielfältig nutzbaren Grünanlage. Wer entlang diesem Hauptweg, von einer Baumreihe begleitet, auf den Unglücksort zugeht, bewegt sich auf dem Trassee, das die Rettungs- und Feuerwehrfahrzeuge damals benutzten. Es widerspricht in seinem streng linearen Verlauf dem Charakter des übrigen Wegnetzes und wird von niedrigen Mauern begleitet, in die Bänke und Tische integriert wurden.
Diese sollen zum Aufenthalt im Schatten der neuen Bäume einladen, doch es scheint, als würden die Bewohner die weiten, teilweise sanft modellierten Rasenflächen zum Picknick und für Feste bevorzugen. In diesen Flächen findet man immer wieder grossformatige Betonplatten als Markierung der offenen Enden jenes zerrissenen Wegnetzes, das die Wohngebäude vor ihrer Zerstörung erschloss. Nach der Vorstellung der Gestalter soll in der Blumenwiese das Muster der Wohnwege durch gezieltes Mähen zwischen den Betonplatten wieder sichtbar werden.
Weiter entlang dem Weg kreuzt man auf einer Brücke den tiefen Abdruck des zerstörten Wohnblocks. Georges Descombes und seine Partner entschlossen sich dazu, mit einem negativen Volumen, einem streng gefassten Wasserkanal, den Verlust des Gebäudevolumens zu versinnbildlichen. Von Westen senkt sich der Abdruck wie eine Rampe langsam ab und führt hinunter zur Oberfläche des stehenden Gewässers. Erst jetzt bemerkt man die sanfte Kräuselung der Wasseroberfläche, verursacht durch ein Rinnsal an der seitlichen Betonwand des Kanals. Ein winziger Quellbrunnen spendet Wasser und markiert unauffällig den Ort des Einschlags.
Unumstritten bildet jedoch der Baum den Schwerpunkt der gesamten Anlage. Hier sammeln sich wie um einen Altar zahllose Blumen und Andenken. Die Grundfläche des quadratischen Platzes um die Pappel ist mit Mosaiken belegt, welche die Anwohner mit Glas- und Keramikstückchen gestalteten. Ein architektonisch entworfenes, überdachtes Wandelement mit Metallgittern und beschrifteten Betonelementen übernimmt die Funktion des ersten provisorischen Zaunes als Träger für Briefe oder Blumen. Wie ein wehender Schleier zieht sich eine strukturierte weisse Betonwand in geschwungener Bewegung um den südlichen Teil des kleinen Platzes, fasst den Raum und bietet Sitzmöglichkeiten im wachsenden Denkmal.
Erst kurz nach der Einweihung des Bijlmer-Monuments am 6. Jahrestag des Flugzeugabsturzes erfuhren die Betroffenen, dass die Unglücksmaschine - entgegen jahrelangen Beteuerungen der Verantwortlichen - nicht mit Blumen, Parfum und Unterhaltungselektronik, sondern mit Giftstoffen und Munition beladen war. Für die Überlebenden der Katastrophe, die seither mit schweren gesundheitlichen Folgeschäden zu kämpfen haben, wird «der Baum, der alles gesehen hat», auch in Zukunft ein besonderer, dezent gestalteter Ort der erbitterten Anklage bleiben.
Gemäss den Grundsätzen des modernen Städtebaus hatte man 1966 die Trabantenstadt in flachem Polderland als «Stadt von morgen» geplant und realisiert, mit grossen Scheibenhochhäusern, die sich um parkartig gestaltete Grünanlagen mit hexagonalen Grundrissen gruppierten. Entgegen den Planungsabsichten mied jedoch die weisse Mittelklasse Amsterdams die neuen Wohnsilos und überliess Bijlmermeer vor allem den Immigranten aus Surinam sowie den Angehörigen von etwa 90 unterschiedlichen schwarzen Bevölkerungsgruppen aus ehemaligen Kolonien der Niederlande. Als die Boeing 747 am 4. Oktober 1992 wie eine Bombe in die Häuserblocks einschlug, traf sie mitten ins Herz einer sozialen Problemzone, die viele abschätzig als «das grösste Ghetto Westeuropas» bezeichneten.
Am Absperrzaun um die Unglücksstelle bekundete schon bald eine wachsende Anzahl von Briefen, Gedichten, Fotos, Blumen, Kränzen und Plüschtieren Trauer und Bestürzung über die unfassbare Katastrophe. Besonders «der Baum, der alles gesehen hat», eine grosse Pappel in der Nähe der Absturzstelle, wurde spontan zum Treffpunkt und zur Gedenkstätte für die Hinterbliebenen. Der stumme grüne Augenzeuge wurde zum berührenden Mittelpunkt eines «wachsenden Denkmals», das vom Genfer Architekten Georges Descombes und vom niederländischen Architekturstudio Herman Hertzberger auf Initiative der Stadtverwaltung in Abstimmung mit den Betroffenen ab Ende 1992 konzipiert wurde.
Allen Beteiligten ging es bei diesem heiklen Projekt von Anfang an darum, auf keinen Fall ein traditionelles Mahnmal zu errichten, das nur einer alljährlichen Zeremonie der Kranzniederlegung dienen würde. Vielmehr sollte der besinnliche Ort dem Bedürfnis nach einer gewissen Ruhe und persönlicher Begegnung dienen, vor allem aber ganz pragmatisch zum Ausgangspunkt einer Wohnumfeldverbesserung im Problemviertel werden.
Das Gesamtkonzept der Architekten basiert auf der Planung eines Quartierparks, der sich weiterentwickeln soll. Im Zentrum des wachsenden Denkmals stehen vier Hauptbestandteile: der Baum und seine direkte Umgebung, die Spur des verwüsteten Gebäudes, die Markierung der zerstörten Wegverbindungen und eine neue Promenade als Rückgrat einer vielfältig nutzbaren Grünanlage. Wer entlang diesem Hauptweg, von einer Baumreihe begleitet, auf den Unglücksort zugeht, bewegt sich auf dem Trassee, das die Rettungs- und Feuerwehrfahrzeuge damals benutzten. Es widerspricht in seinem streng linearen Verlauf dem Charakter des übrigen Wegnetzes und wird von niedrigen Mauern begleitet, in die Bänke und Tische integriert wurden.
Diese sollen zum Aufenthalt im Schatten der neuen Bäume einladen, doch es scheint, als würden die Bewohner die weiten, teilweise sanft modellierten Rasenflächen zum Picknick und für Feste bevorzugen. In diesen Flächen findet man immer wieder grossformatige Betonplatten als Markierung der offenen Enden jenes zerrissenen Wegnetzes, das die Wohngebäude vor ihrer Zerstörung erschloss. Nach der Vorstellung der Gestalter soll in der Blumenwiese das Muster der Wohnwege durch gezieltes Mähen zwischen den Betonplatten wieder sichtbar werden.
Weiter entlang dem Weg kreuzt man auf einer Brücke den tiefen Abdruck des zerstörten Wohnblocks. Georges Descombes und seine Partner entschlossen sich dazu, mit einem negativen Volumen, einem streng gefassten Wasserkanal, den Verlust des Gebäudevolumens zu versinnbildlichen. Von Westen senkt sich der Abdruck wie eine Rampe langsam ab und führt hinunter zur Oberfläche des stehenden Gewässers. Erst jetzt bemerkt man die sanfte Kräuselung der Wasseroberfläche, verursacht durch ein Rinnsal an der seitlichen Betonwand des Kanals. Ein winziger Quellbrunnen spendet Wasser und markiert unauffällig den Ort des Einschlags.
Unumstritten bildet jedoch der Baum den Schwerpunkt der gesamten Anlage. Hier sammeln sich wie um einen Altar zahllose Blumen und Andenken. Die Grundfläche des quadratischen Platzes um die Pappel ist mit Mosaiken belegt, welche die Anwohner mit Glas- und Keramikstückchen gestalteten. Ein architektonisch entworfenes, überdachtes Wandelement mit Metallgittern und beschrifteten Betonelementen übernimmt die Funktion des ersten provisorischen Zaunes als Träger für Briefe oder Blumen. Wie ein wehender Schleier zieht sich eine strukturierte weisse Betonwand in geschwungener Bewegung um den südlichen Teil des kleinen Platzes, fasst den Raum und bietet Sitzmöglichkeiten im wachsenden Denkmal.
Erst kurz nach der Einweihung des Bijlmer-Monuments am 6. Jahrestag des Flugzeugabsturzes erfuhren die Betroffenen, dass die Unglücksmaschine - entgegen jahrelangen Beteuerungen der Verantwortlichen - nicht mit Blumen, Parfum und Unterhaltungselektronik, sondern mit Giftstoffen und Munition beladen war. Für die Überlebenden der Katastrophe, die seither mit schweren gesundheitlichen Folgeschäden zu kämpfen haben, wird «der Baum, der alles gesehen hat», auch in Zukunft ein besonderer, dezent gestalteter Ort der erbitterten Anklage bleiben.
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