Zeitschrift
tec21 2006|13
Berns Wilder Westen
Im Westen viel Neues
Wohnblöcke, ein hoher Ausländeranteil und Arbeitslosenzahlen prägen den Ruf von Bümpliz und Bethlehem, dem Westen Berns. Hier entstehen nun das Einkaufszentrum Westside von Daniel Libeskind und die riesige Wohnüberbauung Brünnen. In der Bundesstadt herrscht Bauboom - und Berns Westen, einst ein Arbeiterquartier, steht vor dem Wandel.
24. März 2006 - Simon Jäggi
380 Schläge hat Luise Rufer gezählt - pro Pfeiler. 150 dieser Betonpfähle werden in diesen Wochen in den Boden gerammt, dereinst sollen sie das Fundament des „Westside“ bilden. Luise Rufer und ihr Gatte Walter wohnen im „Gäbelbach“, Block C, 12.Stock. Als sie vor vierzig Jahren in die Musterwohnung zogen, war der Block noch nicht einmal ganz fertig gestellt - als „Ureinwohner“ bezeichnet sich das pensionierte Ehepaar. Unter seinen geduldigen Blicken entstehen hier das Einkaufszentrum Westside und die Überbauung Brünnen. „Das ist unsere VIP-Loge“, sagt Walter Rufer, früher Mechaniker bei den Städtischen Verkehrsbetrieben, und öffnet die Balkontüre.
Grösste private Baustelle
Bei schönem Wetter haben Rufers freie Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Auch an bewölkten Tagen blicken sie auf den „Niesen“ - so nennen Rufers den 25 Meter hohen Erdhügel, der sich inmitten des endlos wirkenden, erdfarbenen Baufeldes erhebt. Camions, Maschinen, Baracken - soweit das Auge reicht. Hundertausende Kubikmeter Erde wurden bereits ausgehoben und verschoben, die Fläche des Gesamtprojektes erstreckt sich über 45 Fussballfelder. Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät spricht genüsslich von der „grössten privaten Baustelle der Nation“.
Herzstück des Projekts ist das Freizeit- und Einkaufszentrum Westside des New Yorker Architekten Daniel Libeskind. Das markante Gebäude wird dereinst die Eingangspforte zur Hauptstadt darstellen. Wer von Westen her über die Autobahn A1 nach Bern fährt, wird unter dem „Westside“ hindurch in die Stadt gelangen. Diagonal zieht sich die Autobahn über die Baufläche, auf der die Überbauung dereinst zu stehen kommt - daher musste die A1 zuerst überdeckt werden. Im April wird mit der Grundsteinlegung der eigentliche Baubeginn des „Westside“ eingeläutet.
Bauherrin von „Westside“ ist die Grossverteilerin Migros, sie steckt rund 450 Millionen Franken in das Projekt. Neben einem grossflächigen Supermarkt des orangen Riesen sind über über 60 weitere Fachgeschäfte und Boutiquen geplant, ein Dutzend Restaurants, ein Erlebnisbad mit Fitnesscenter und ein Mediaplex-Kino mit zehn Sälen, ein Kongress- und Tagungszentrum, ein Hotel und eine Seniorenresidenz (ausführlicher Projektbeschrieb „Superzeichen und Landmark“ in tec21, 49-50/2003). 800 neue Arbeitsplätze soll das „Westside“, das im Sommer 2008 seine Tore öffnet, generieren.
Doch in Berns Westen entsteht nicht nur ein gigantischer, goldfarbener Konsumtempel, hier wird gleich ein neuer Stadtteil errichtet. Das Freizeit- und Einkaufszentrum macht kosten- und flächenmässig einen Drittel des Bauvorhabens Brünnen aus. Auf den restlichen 21 Baufeldern wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren eine riesige Siedlung mit 1000 Wohnungen für 2600 bis 3000 Personen aus dem Boden gestampft.
Und die Siedlung zieht eine Reihe von Infrastrukturprojekten nach sich: So werden etwa die Bahnlinie auf Doppelspur erweitert und eine Haltestelle geschaffen, Lärmschutzmassnahmen getroffen und neue Strassen und Plätze gebaut. Selbst das Tram Bern West, das noch vor eineinhalb Jahren vom kantonalen Stimmvolk bachab geschickt wurde, kommt nun wohl doch - wenn auch nicht ganz bis zum „Westside“. Ein beträchtlicher Zustupf des Bundesrates (65 Millionen Franken) aus dem Infrastrukturfonds für dringende Agglomerationsprojekte solls möglich machen. Insgesamt fliessen schliesslich fast eine Milliarde Schweizer Franken nach Brünnen.
Come West
Die Familienbaugenossenschaft (Fambau) fungierte schon als Bauherrin der Siedlungen Gäbelbach und Holenacker, die an Brünnen angrenzen. Sie wird auch den ersten Grundstein der Siedlung Brünnen legen. Andere Investoren wollen den Bau ihrer Projekte noch in diesem Jahr in Angriff nehmen. Mit den ersten „Westside“-Kunden soll es 2008 auch die ersten Bewohner nach Brünnen ziehen. Doch mit sozialem Wohnungsbau haben die Vorhaben auf den Baufeldern 8 und 9 (siehe Plan S.12 und 13) nicht mehr viel zu tun: In 13 viergeschossigen Häusern entstehen 53 „grosszügig bemessene“ 3- bis 6-Zimmer-Wohnungen, die „hochwertigen Wohnraum“ bieten, wie die Fambau verspricht. Das Projekt des Berner Büros von Regina und Alain Gonthier, welches als Sieger aus einem Projektwettbewerb hervorging, heisst vielsagend „Come West“ (Wettbewerbsbericht in tec21, 49-50/2003). Gute Steuerzahler sollen in den Westen kommen, wünscht sich die Stadt - vermögende Mittelstandsfamilien, die in jüngster Zeit vermehrt in die Stadt zurückdrängen.
Zwei Welten
Gleich unter dem Block C, wo das Ehepaar Rufer täglich die Bauarbeiten beobachtet, wird momentan eine hohe, rote Lärmschutzwand aufgezogen. Es ist, als markierte sie die Trennlinie zwischen zwei Welten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Auf der einen Seite der in die Jahre gekommene Gäbelbach - eine einstige Vorzeige-Arbeitersiedlung, die als armes Problemquartier in Verruf gekommen ist. Auf der anderen Seite die Überbauung Brünnen - eine imposante Baustelle, die als Symbol steht für den Wandel, den die Haupstadt durchläuft. Mit dem Bau des Paul-Klee-Zentrums, des neuen Fussballstadions und des Einkaufszentrums Westside sei der Beweis endgültig erbracht, dass das Klischee „vom behäbigen, lethargischen Berner restlos überholt ist“, meinte Stadtpräsident Tschäppät Ende Jahr. Und auch die Berner Medien erkannten im Rückblick auf 2005 einen Aufbruch der Bundesstadt: „Der Berner Stimmungswandel“, titelte der Bund.
In den 1990er-Jahren schien Bern gelähmt, lethargisch, selbstmitleidig: Der Fussballclub Young Boys dümpelte in der Nationalliga B, die Stadt ächzte unter der Schuldenlast, als Wirtschaftsstandort verlor Bern an Bedeutung, Bauprojekte waren blockiert, und Wohnraum wurde immer knapper.
Der Wind hat gedreht - und das liegt nicht nur daran, dass YB heute wieder in der Superleague vorne mitspielt. Das Grossprojekt Brünnen ist ein Sinnbild für das städtebauliche Tauwetter, das in jüngster Zeit über die Aarestadt hereingebrochen ist - und auch das Gemütsklima der Bernerinnen und Berner zu mildern scheint. Im Sommer wurden nicht nur das Klee-Zentrum und das Stade de Suisse eröffnet, das Bundesgericht wies auch die Beschwerden gegen das „Westside“ ab und machte damit den Weg frei für den Baustart. Neben den Grossprojekten in den Peripherien erlebte auch die Innenstadt eine Aufwertung: Die Altstadt wurde saniert, und bei der Abstimmung über den Bahnhofplatz wählte die Bevölkerung mit der Baldachin-Variante die architektonisch mutigere der beiden Vorlagen.
Mit der Überbauung Brünnen erhält der städtische Wohnungsbau einen lange erhofften Schub. Dabei ist Brünnen längst nicht das einzige aktuelle Wohnbauprojekt auf Stadtboden. An über 25 Standorten wird zurzeit geplant und gebaut. Zum Beispiel entsteht auf dem Hunziker-Areal, im südlichen Teil Berns, eine Siedlung mit rund 300 Wohnungen (Wettbewerbsbericht in tec21, 18/2004). Ähnlich grosse Vorhaben sind im Saali und in Schöngrün Ost geplant.
In der gesamten Schweiz ist ein Bauboom zu erkennen - 2005 waren in der Schweiz 12.5 Prozent mehr Wohnungen im Bau als im Vorjahr. Mit 34.5 Prozent verzeichnete der Grossraum Bern aber den grössten Zuwachs unter den Agglomerationen. In Bern und Umgebung entstehen momentan 2271 Wohnungen. „Aber noch wird weniger gebaut, als die Stadt gerne hätte“, sagt Berns Stadtplaner Christian Wiesmann. Zwar bringe „Brünnen“ etwas, doch auf lange Frist reiche der Wohnungsbestand noch immer nicht aus.
Mit den Wohnungen für den Mittelstand solle im positiven Sinn ein Gegengewicht zur Siedlung Gäbelbach geschaffen werden, sagt er. Profitieren würden auch die Bewohner der bestehenden Siedlungen: Die Infrastruktur werde aufgewertet - etwa durch die verbesserte Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr -, zudem entstünden neue Einkaufsmöglichkeiten.
Doch wird sich der neue Stadtteil Brünnen je in Bern West einbetten? Entsteht hier nicht ein autonomes Quartier? "Da müssen wir dafür sorgen, dass ‹Brünnen› das nicht wird", antwortet der Stadtplaner. Zu diesem Zwecke seien die öffentlichen Räume nicht trennend, sondern verbindend geplant worden.
„Mausloch“ und Lärmschutzwand
Sabine Schärrer reichen diese Massnahmen nicht. Erst kürzlich trat die Architektin als Präsidentin der Vereinigung für Beratung, Integrationshilfe und Gemeinwesenarbeit (VBG) ab, die in Bern West Quartierzentren und Treffpunkte betreut. Und Schärrer ist die Tochter von Hans und Gret Reinhard, welche zusammen mit Eduard Helfer die damals modernen und vorbildlichen Hochhäuser wie im „Gäbelbach“ in Berns Westen planten. „Der soziale Blickwinkel fand kaum Eingang in die Planung“, kritisiert sie. Die Lärmschutzwand sei „eine Katastrophe“ - sie mache die Linie des sozialen Gefälles sichtbar. Der Ansermetplatz, der als Verbindung zwischen den Siedlungen Brünnen und Gäbelbach dient, sei bloss ein „Mausloch“. Die Architektin fordert, dass die Tagesschule, die im Gäbelbach steht, dereinst zwischen die beiden Quartiere zu liegen kommt. „Das wäre ein echt verbindendes und integrierendes Element“, so Schärrer.
"Das ‹Westside› brauchen wir gar nicht", findet das Ehepaar Rufer. Mit dem Denner im Gäbelbach und den nahe liegenden Filialen von Migros, Coop und Loeb seien sie zufrieden. Etwas Positives gewinnen sie dem Zentrum dann doch ab: In Reaktion auf das Westside werde nämlich die etwas heruntergekommene Ladenstrasse im Gäbelbach ausgebaut und aufgewertet. Und auch dem lädierten Image von Bern West könnte Brünnen dienlich sein, hoffen sie.
Luise und Walter Rufer leiden unter dem schlechten Ruf ihres Quartiers, es ist ihren Erzählungen anzuhören. „Kaninchenställe“ mussten sie schon Leute über ihren Gäbelbach sagen hören, „Wohnsilos“, „Getto“, „der Wilde Westen“. Dabei fühlten sie sich wohl hier, ihr Block stehe mitten in schönem Naherholungsgebiet, die Wohnung entspreche ihren Ansprüchen, die Miete sei tief. 982 Franken bezahlen sie für ihre 4.5-Zimmer-Wohnung. Regelmässig werde renoviert, Schäden in der Wohnung würden sofort behoben. Ein „Gschtürm“ habe es nie gegeben, sagt Luise Rufer. Damit spricht sie auf die Nachbarn an, besonders die ausländischen. „Man grüsst sich freundlich und hält sich die Türe auf“, sagt Walter Rufer, Probleme gebe es kaum. Im Gegenteil: Trotz Konflikten, die zweifelsohne auch vorhanden seien, könne der „Gäbelbach“ viel eher als Vorbild für Integration und friedliches Zusammenleben gelten.
Rapper und Kartoffelbauer
„Ich wollte die Vorurteile gegenüber Bümpliz und Bethlehem aufdecken“, sagt Michael Spahr, Videokünstler und Filmemacher. Vor zwei Jahren zog er nach Bümpliz und wurde mit Klischees über den westlichen Stadtteil aus dem eigenen Umfeld konfrontiert, was ihn dazu bewegte, einen Dokumentarfilm über das Quartier zu drehen. „Für die Linken gibt es in Bern West nur Rassisten und Rechte“, spitzt Spahr ironisch zu, „die Bürgerlichen sehen stattdessen nur Arbeitslosenzahlen und den hohen Ausländeranteil.“ In seinem Film „Bümpliz“ zeigt er Wohnblöcke und Einfamilienhäuser, Urbanes und Ländliches, Multikulturelles wie Urschweizerisches: Neben einer Rap-Gruppe kommen im Film auch ein junger Kartoffelbauer und ein Mitglied eines Platzgervereins (Sport, bei dem mit einem Wurfkörper, „Platzge“ genannt, versucht wird, einen 17 m entfernten Metallstab zu treffen) zu Wort. Es herrscht eine Atmosphäre der Toleranz und Stolz, aus dem „Wilden Westen“ zu stammen.
Und auch für das Ehepaar Rufer ist klar: Aus dem Gäbelbach wollen sie nicht wegziehen, auch nicht nach Brünnen.
Grösste private Baustelle
Bei schönem Wetter haben Rufers freie Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Auch an bewölkten Tagen blicken sie auf den „Niesen“ - so nennen Rufers den 25 Meter hohen Erdhügel, der sich inmitten des endlos wirkenden, erdfarbenen Baufeldes erhebt. Camions, Maschinen, Baracken - soweit das Auge reicht. Hundertausende Kubikmeter Erde wurden bereits ausgehoben und verschoben, die Fläche des Gesamtprojektes erstreckt sich über 45 Fussballfelder. Der Berner Stadtpräsident Alexander Tschäppät spricht genüsslich von der „grössten privaten Baustelle der Nation“.
Herzstück des Projekts ist das Freizeit- und Einkaufszentrum Westside des New Yorker Architekten Daniel Libeskind. Das markante Gebäude wird dereinst die Eingangspforte zur Hauptstadt darstellen. Wer von Westen her über die Autobahn A1 nach Bern fährt, wird unter dem „Westside“ hindurch in die Stadt gelangen. Diagonal zieht sich die Autobahn über die Baufläche, auf der die Überbauung dereinst zu stehen kommt - daher musste die A1 zuerst überdeckt werden. Im April wird mit der Grundsteinlegung der eigentliche Baubeginn des „Westside“ eingeläutet.
Bauherrin von „Westside“ ist die Grossverteilerin Migros, sie steckt rund 450 Millionen Franken in das Projekt. Neben einem grossflächigen Supermarkt des orangen Riesen sind über über 60 weitere Fachgeschäfte und Boutiquen geplant, ein Dutzend Restaurants, ein Erlebnisbad mit Fitnesscenter und ein Mediaplex-Kino mit zehn Sälen, ein Kongress- und Tagungszentrum, ein Hotel und eine Seniorenresidenz (ausführlicher Projektbeschrieb „Superzeichen und Landmark“ in tec21, 49-50/2003). 800 neue Arbeitsplätze soll das „Westside“, das im Sommer 2008 seine Tore öffnet, generieren.
Doch in Berns Westen entsteht nicht nur ein gigantischer, goldfarbener Konsumtempel, hier wird gleich ein neuer Stadtteil errichtet. Das Freizeit- und Einkaufszentrum macht kosten- und flächenmässig einen Drittel des Bauvorhabens Brünnen aus. Auf den restlichen 21 Baufeldern wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren eine riesige Siedlung mit 1000 Wohnungen für 2600 bis 3000 Personen aus dem Boden gestampft.
Und die Siedlung zieht eine Reihe von Infrastrukturprojekten nach sich: So werden etwa die Bahnlinie auf Doppelspur erweitert und eine Haltestelle geschaffen, Lärmschutzmassnahmen getroffen und neue Strassen und Plätze gebaut. Selbst das Tram Bern West, das noch vor eineinhalb Jahren vom kantonalen Stimmvolk bachab geschickt wurde, kommt nun wohl doch - wenn auch nicht ganz bis zum „Westside“. Ein beträchtlicher Zustupf des Bundesrates (65 Millionen Franken) aus dem Infrastrukturfonds für dringende Agglomerationsprojekte solls möglich machen. Insgesamt fliessen schliesslich fast eine Milliarde Schweizer Franken nach Brünnen.
Come West
Die Familienbaugenossenschaft (Fambau) fungierte schon als Bauherrin der Siedlungen Gäbelbach und Holenacker, die an Brünnen angrenzen. Sie wird auch den ersten Grundstein der Siedlung Brünnen legen. Andere Investoren wollen den Bau ihrer Projekte noch in diesem Jahr in Angriff nehmen. Mit den ersten „Westside“-Kunden soll es 2008 auch die ersten Bewohner nach Brünnen ziehen. Doch mit sozialem Wohnungsbau haben die Vorhaben auf den Baufeldern 8 und 9 (siehe Plan S.12 und 13) nicht mehr viel zu tun: In 13 viergeschossigen Häusern entstehen 53 „grosszügig bemessene“ 3- bis 6-Zimmer-Wohnungen, die „hochwertigen Wohnraum“ bieten, wie die Fambau verspricht. Das Projekt des Berner Büros von Regina und Alain Gonthier, welches als Sieger aus einem Projektwettbewerb hervorging, heisst vielsagend „Come West“ (Wettbewerbsbericht in tec21, 49-50/2003). Gute Steuerzahler sollen in den Westen kommen, wünscht sich die Stadt - vermögende Mittelstandsfamilien, die in jüngster Zeit vermehrt in die Stadt zurückdrängen.
Zwei Welten
Gleich unter dem Block C, wo das Ehepaar Rufer täglich die Bauarbeiten beobachtet, wird momentan eine hohe, rote Lärmschutzwand aufgezogen. Es ist, als markierte sie die Trennlinie zwischen zwei Welten, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Auf der einen Seite der in die Jahre gekommene Gäbelbach - eine einstige Vorzeige-Arbeitersiedlung, die als armes Problemquartier in Verruf gekommen ist. Auf der anderen Seite die Überbauung Brünnen - eine imposante Baustelle, die als Symbol steht für den Wandel, den die Haupstadt durchläuft. Mit dem Bau des Paul-Klee-Zentrums, des neuen Fussballstadions und des Einkaufszentrums Westside sei der Beweis endgültig erbracht, dass das Klischee „vom behäbigen, lethargischen Berner restlos überholt ist“, meinte Stadtpräsident Tschäppät Ende Jahr. Und auch die Berner Medien erkannten im Rückblick auf 2005 einen Aufbruch der Bundesstadt: „Der Berner Stimmungswandel“, titelte der Bund.
In den 1990er-Jahren schien Bern gelähmt, lethargisch, selbstmitleidig: Der Fussballclub Young Boys dümpelte in der Nationalliga B, die Stadt ächzte unter der Schuldenlast, als Wirtschaftsstandort verlor Bern an Bedeutung, Bauprojekte waren blockiert, und Wohnraum wurde immer knapper.
Der Wind hat gedreht - und das liegt nicht nur daran, dass YB heute wieder in der Superleague vorne mitspielt. Das Grossprojekt Brünnen ist ein Sinnbild für das städtebauliche Tauwetter, das in jüngster Zeit über die Aarestadt hereingebrochen ist - und auch das Gemütsklima der Bernerinnen und Berner zu mildern scheint. Im Sommer wurden nicht nur das Klee-Zentrum und das Stade de Suisse eröffnet, das Bundesgericht wies auch die Beschwerden gegen das „Westside“ ab und machte damit den Weg frei für den Baustart. Neben den Grossprojekten in den Peripherien erlebte auch die Innenstadt eine Aufwertung: Die Altstadt wurde saniert, und bei der Abstimmung über den Bahnhofplatz wählte die Bevölkerung mit der Baldachin-Variante die architektonisch mutigere der beiden Vorlagen.
Mit der Überbauung Brünnen erhält der städtische Wohnungsbau einen lange erhofften Schub. Dabei ist Brünnen längst nicht das einzige aktuelle Wohnbauprojekt auf Stadtboden. An über 25 Standorten wird zurzeit geplant und gebaut. Zum Beispiel entsteht auf dem Hunziker-Areal, im südlichen Teil Berns, eine Siedlung mit rund 300 Wohnungen (Wettbewerbsbericht in tec21, 18/2004). Ähnlich grosse Vorhaben sind im Saali und in Schöngrün Ost geplant.
In der gesamten Schweiz ist ein Bauboom zu erkennen - 2005 waren in der Schweiz 12.5 Prozent mehr Wohnungen im Bau als im Vorjahr. Mit 34.5 Prozent verzeichnete der Grossraum Bern aber den grössten Zuwachs unter den Agglomerationen. In Bern und Umgebung entstehen momentan 2271 Wohnungen. „Aber noch wird weniger gebaut, als die Stadt gerne hätte“, sagt Berns Stadtplaner Christian Wiesmann. Zwar bringe „Brünnen“ etwas, doch auf lange Frist reiche der Wohnungsbestand noch immer nicht aus.
Mit den Wohnungen für den Mittelstand solle im positiven Sinn ein Gegengewicht zur Siedlung Gäbelbach geschaffen werden, sagt er. Profitieren würden auch die Bewohner der bestehenden Siedlungen: Die Infrastruktur werde aufgewertet - etwa durch die verbesserte Erschliessung durch den öffentlichen Verkehr -, zudem entstünden neue Einkaufsmöglichkeiten.
Doch wird sich der neue Stadtteil Brünnen je in Bern West einbetten? Entsteht hier nicht ein autonomes Quartier? "Da müssen wir dafür sorgen, dass ‹Brünnen› das nicht wird", antwortet der Stadtplaner. Zu diesem Zwecke seien die öffentlichen Räume nicht trennend, sondern verbindend geplant worden.
„Mausloch“ und Lärmschutzwand
Sabine Schärrer reichen diese Massnahmen nicht. Erst kürzlich trat die Architektin als Präsidentin der Vereinigung für Beratung, Integrationshilfe und Gemeinwesenarbeit (VBG) ab, die in Bern West Quartierzentren und Treffpunkte betreut. Und Schärrer ist die Tochter von Hans und Gret Reinhard, welche zusammen mit Eduard Helfer die damals modernen und vorbildlichen Hochhäuser wie im „Gäbelbach“ in Berns Westen planten. „Der soziale Blickwinkel fand kaum Eingang in die Planung“, kritisiert sie. Die Lärmschutzwand sei „eine Katastrophe“ - sie mache die Linie des sozialen Gefälles sichtbar. Der Ansermetplatz, der als Verbindung zwischen den Siedlungen Brünnen und Gäbelbach dient, sei bloss ein „Mausloch“. Die Architektin fordert, dass die Tagesschule, die im Gäbelbach steht, dereinst zwischen die beiden Quartiere zu liegen kommt. „Das wäre ein echt verbindendes und integrierendes Element“, so Schärrer.
"Das ‹Westside› brauchen wir gar nicht", findet das Ehepaar Rufer. Mit dem Denner im Gäbelbach und den nahe liegenden Filialen von Migros, Coop und Loeb seien sie zufrieden. Etwas Positives gewinnen sie dem Zentrum dann doch ab: In Reaktion auf das Westside werde nämlich die etwas heruntergekommene Ladenstrasse im Gäbelbach ausgebaut und aufgewertet. Und auch dem lädierten Image von Bern West könnte Brünnen dienlich sein, hoffen sie.
Luise und Walter Rufer leiden unter dem schlechten Ruf ihres Quartiers, es ist ihren Erzählungen anzuhören. „Kaninchenställe“ mussten sie schon Leute über ihren Gäbelbach sagen hören, „Wohnsilos“, „Getto“, „der Wilde Westen“. Dabei fühlten sie sich wohl hier, ihr Block stehe mitten in schönem Naherholungsgebiet, die Wohnung entspreche ihren Ansprüchen, die Miete sei tief. 982 Franken bezahlen sie für ihre 4.5-Zimmer-Wohnung. Regelmässig werde renoviert, Schäden in der Wohnung würden sofort behoben. Ein „Gschtürm“ habe es nie gegeben, sagt Luise Rufer. Damit spricht sie auf die Nachbarn an, besonders die ausländischen. „Man grüsst sich freundlich und hält sich die Türe auf“, sagt Walter Rufer, Probleme gebe es kaum. Im Gegenteil: Trotz Konflikten, die zweifelsohne auch vorhanden seien, könne der „Gäbelbach“ viel eher als Vorbild für Integration und friedliches Zusammenleben gelten.
Rapper und Kartoffelbauer
„Ich wollte die Vorurteile gegenüber Bümpliz und Bethlehem aufdecken“, sagt Michael Spahr, Videokünstler und Filmemacher. Vor zwei Jahren zog er nach Bümpliz und wurde mit Klischees über den westlichen Stadtteil aus dem eigenen Umfeld konfrontiert, was ihn dazu bewegte, einen Dokumentarfilm über das Quartier zu drehen. „Für die Linken gibt es in Bern West nur Rassisten und Rechte“, spitzt Spahr ironisch zu, „die Bürgerlichen sehen stattdessen nur Arbeitslosenzahlen und den hohen Ausländeranteil.“ In seinem Film „Bümpliz“ zeigt er Wohnblöcke und Einfamilienhäuser, Urbanes und Ländliches, Multikulturelles wie Urschweizerisches: Neben einer Rap-Gruppe kommen im Film auch ein junger Kartoffelbauer und ein Mitglied eines Platzgervereins (Sport, bei dem mit einem Wurfkörper, „Platzge“ genannt, versucht wird, einen 17 m entfernten Metallstab zu treffen) zu Wort. Es herrscht eine Atmosphäre der Toleranz und Stolz, aus dem „Wilden Westen“ zu stammen.
Und auch für das Ehepaar Rufer ist klar: Aus dem Gäbelbach wollen sie nicht wegziehen, auch nicht nach Brünnen.
Für den Beitrag verantwortlich: TEC21
Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Solt