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db deutsche bauzeitung 04|2017
Campus
db deutsche bauzeitung 04|2017
Mit dem Begriff Campus verbindet jeder sofort das Bild nordamerikanischer Universitätsbauten auf grünem Rasen – und auch die romantische Vorstellung von ungetrübtem Studentenleben. Dieser Idealtypus wie auch alle Ableitungen davon haben ihre Stärken und auch Schwächen. Fehler, die beim (Re-)Import des Campusgedankens nach Europa gemacht wurden, gilt es nun zu korrigieren – die Chancen, dass dabei ein neuer, der gesellschaftlichen Realität entsprechender Stadttypus entsteht, sind nicht schlecht.

Die »Pilgerväter«, die von der Mayflower an der amerikanischen Ostküste angelandet –wurden, waren religiös motivierte Emigranten, unter ihnen viele Akademiker, getrieben vom Ekel vor der verderbten europäische Stadt. Nichts weniger als die »Neue Welt« zu gründen, war ihr Ansinnen.

Konsequenterweise errichteten sie keine Städte, sondern vielmehr klösterlich inspirierte, am mittelalterlichen »collegiate ideal« Englands orientierte Gebäudekomplexe für gemeinsames Leben, Lernen, Studieren und gemeinsame Glaubensausübung – Campus-Anlagen als Zivilisations­instrument in der Wildnis.

Als Höhepunkt dieser Gründungswelle wie auch der Ausprägung dieses Bautypus‘ darf man den 1817 von Thomas Jefferson (1801-09 Präsident der Vereinigten Staaten) entworfenen Campus der University of Virginia in Charlottesville ansehen: eine überdimensionale Bibliothek in ländlicher Umgebung (s. Bild links) und rings um einen weitläufigen Campus herum Häuser, in denen ­Professoren und Studierende gemeinsamen leben und lernen.

Bis heute ist zu spüren, dass in den USA die Stadt an sich – nach europäischer Lesart – nie der ­Planungsmittelpunkt war. Städte entwickelten sich lediglich ungeplant um die Colleges herum, als Anhängsel und (wirtschaftlich) notwendiges Übel. Die Campus-Anlagen bieten sorgfältig über­legte Räume und Verbindungen, autofreie, parkartige Anlagen, Kultureinrichtungen und Architektur von Weltrang.

Sie sind städtebaulich wie wirtschaftlich so erfolgreich, dass sich die um­gebenden Städte mittlerweile gegen den Aufkauf ganzer Stadt­teile wehren müssen.

Wer einmal hier studiert hat weiß: Man muss den Campus nicht verlassen. Er bietet rund um die Uhr, Wohnen, Sport, Einkaufen, Kultur, Glauben, Gemeinschaft – und Studieren. Tatsächlich, und verstärkt nach 9/11, ist es Pflicht für die jüngeren Studierenden, in einem der sogenannten Colleges zu wohnen. Schutz, Familienersatz wie auch soziales Training stehen im Vordergrund. Auch ­Lehrende wohnen in den Colleges; bereits der Besuch einer Vorlesung fühlt sich wie ein Kontakt zur Außenwelt an. Der Sprung aus der idealen in die reale Welt ist nach dem Studium schwer, nicht wenige enden entweder als »Nerds«, als ­ewige Studenten, oder als erfolgreiche Ausgründer in den campusnahen »Inkubatorgebieten«.

Mit den in Europa um das Jahr 2000 einsetzenden Studienreformen und der Hinwendung zum anglosächsischen Modell fand der Begriff Campus auch bei uns Verbreitung. Alles, was früher »Außenstelle« war – wie Garching bei München oder »Standort« wie die Lichtwiese der TU Darmstadt oder die Ruhr-Universität Bochum, nennt sich jetzt Campus.

Die alten Begriffe waren ­treffender, hatten diese Auslagerungen und Neugründungen doch nie den lebensumspannenden Anspruch der amerikanischen Vorbilder, sondern das Ziel, die Vervielfachung der Studierendenzahlen nach dem 2. Weltkrieg in den Griff zu bekommen. Auch einige über die Innenstadt verteilte Standorte werden unter dem Begriff subsumiert, ja selbst unzugängliche Firmengelände, mitunter ganz ohne Forschungsanspruch, nennen sich plötzlich Campus. Ganze Hochschulen, wie die Frankfurter Goethe-Universität werden auf der Basis des Campus-Gedankens umorganisiert. Beim Wettbewerb zum Campus Westend (s. S. 18) wurde unter Freudentränen frohlockt, hier ­entstünde nun das »Harvard Europas«.

Dass die Gründe für die Neuorganisation häufig woanders liegen – in Frankfurt im Erlös, den man sich vom Verkauf der innerstädtischen Uni-Grundstücke verspricht – und dass sich Geschichte und Rahmenbedingungen europäischer Hochschulen grundlegend von den amerikanischen unterscheiden, tritt erst im Laufe der Zeit zutage: Auf dem Campus Riedberg der Goethe-Universität will man sich freitags nach 17 Uhr nicht mehr aufhalten, ein schlichter Arbeitsort, leer und tot.

Die deutschen Studierenden wohnen bei den Eltern oder in der Stadt, sie treiben Sport in Vereinen. Kulturangebote zur Verfügung zu stellen, können sich die Universitäten so wenig leisten wie ­eigenen Wohnraum. Hochsteuerländer lassen den Familien nicht den Spielraum, wie in den USA derzeit um 50 000 USD pro Jahr für ihre Kinder auszugeben.

Natürlich ist es sinnvoll für europäische Universitäten, ihre verstreuten Anlagen enger zusammen­zuziehen. Vorausschauende Campusplaner legen besonderes Augenmerk auf die Anbindung an die umgebende Stadt, auf wechselseitige Angebote und überlappende Zeitmodelle. Sie sind sich bewusst, dass die Autarkie amerikanischer Anlagen hierzulande im strukturellen Widerspruch zur städtischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen wie hochschulpolitischen Realität steht und dass gerade in der Verknüpfung mit der umgebenden Stadt die Besonderheit des europäischen Campus liegen kann.

Der Titel des Grundlagenwerks des Stanford-­Professors Paul V. Turner lautet »Campus – An American Planning Tradition«. Man könnte – ­weniger bescheiden – aber auch vom Campus als dem größten Idealstadtexperiment der Neuzeit sprechen.

In Europa scheint die schnelle Akzeptanz des Begriffs auf eine Sinnkrise der Stadtvorstellungen hinzudeuten. Vielerorts wird entlang der räumlichen Ideale der ­mittelalterlichen Stadt nachdrücklich am Umbau der Innenstädte gearbeitet; dabei zeigt sich aber überdeutlich: Es gibt sie nicht mehr, die Stadtgesellschaft, die auf der Straße leben muss, die ihre Nachrichten im Freien austauscht und ihre Existenz in und um die Stadt ­sichert.

Auf dem Campus des MIT siedeln sich Senioreneinrichtungen an, deren Bewohner die Nähe zur Jugend und ihrer Aktivitäten suchen und Zutrittsrecht zu ­Vorlesungen genießen. Die Notwendigkeit für lebenslanges Lernen rückt zunehmend als Selbstverständlichkeit in den Mittelpunkt, warum sollte dann nicht der Campus zum Lebensmittelpunkt werden – mehr als die historisch wieder aufgebaute Innenstadt?

Je offensichtlicher der Widerspruch zwischen der ­Erscheinung der europäischen Stadt und der gesellschaftlichen Realität, umso mehr könnte ein gelebtes Modell wie der Campus zu einer neuen, aufregenden und integrierenden Stadtvorstellung werden. | Martin Wilhelm

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