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TEC21 2018|37
Iran I: Inspiration Orient – Okzident
TEC21 2018|37
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Verwandt und doch so verschieden

Der Austausch der islamischen und europäischen Welt in Kunst und ­Architektur wirkt befruchtend, ist aber auch geprägt von ­Feindseligkeiten. Unter dem Begriff des Orientalismus erreichte der Dialog im 19. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Die gegenseitige ­Inspiration setzt sich bis heute fort.

14. September 2018 - Thomas Meyer-Wieser
Hundertfünfzig Jahre nach der Verwüstung, die dem Sturz der Safawiden-Dynastie folgte, hielt sich der französische Marineoffizier und Schriftsteller Pierre Loti in Persien auf. In seinem Reisebeschrieb «Vers Ispahan»,[1] der 1904 in Paris erschien, machte er bei der Ankunft in Isfahan folgende Beobachtung: «… und ein Garten Eden enthüllt sich langsam unserem Blick. Im Vordergrund grüssen Wiesen mit weissen Blüten, die im Kontrast zur staubigen Monotonie der Wüste wie weisser Schnee das Auge blenden. Dann erscheint ein regelrechter Wald mit Pappeln, Weiden, Eichen und Platanen, bis man die blauen Kuppeln und die zahllosen blauen Minarette von Isfahan entdeckt! Es ist ein Hain und zugleich eine Stadt.»

Pierre Loti beschreibt den Eindruck einer typisch orientalischen Oasenstadt. Besiedeln im Orient entspricht nicht unseren Vorstellungen. «Urbar machen» in Europa heisst: roden, eine Lichtung schlagen, in der Gebäude als Einzelbauten oder in Reihen errichtet werden. «Urbar machen» im Orient bedeutet etwas anderes: anpflanzen, eine Oase anlegen, einen Ort bewohnbar machen, üblicherweise an einer Quelle oder in einem Wadi gelegen, in dem Höfe und Plätze aus einer weitgehend ungegliederten Baumasse wie ausgestanzt wirken.

In der orientalischen Stadt bewegt man sich stets innerhalb eines bebauten Raums, das heisst «in» einer oft überdeckten Strasse, im Hof eines Hauses, in einer Medrese, Karawanserei, Moschee, auch «in» einem Stadtplatz, den eine zusammenhängende Umgebung begrenzt. Bestimmend für die traditionelle Stadt und die Architektur Persiens ist das fliessende Raumgefüge – in einer kunstvoll angelegten Folge von Übergängen, in der jedes Gebäude Teil eines harmonischen Ganzen ist.

Die Homogenität dieser Fläche drückt sich in erster Linie in der ununterbrochenen Dächerfolge aus, was sofort auffällt, wenn man von oben auf die Stadt schaut. So überdecken Bögen, Gewölbe oder Kuppeln die Strassen und Gassen, die sich wie unterirdische Gänge durch ein Stadtviertel schlängeln.[2]

Einflüsse von Ost nach West

Der französische Kaufmann Jean Chardin, der mehr als zehn Jahre lang in Isfahan lebte, schrieb um 1660, der Chahar Bagh in Isfahan (vgl. «Paradiesisches Abbild», TEC21 38/2018) sei die schönste Avenue, die er je gesehen habe: Acht Reihen von Platanen, zwischen denen Rosen und Jasmin wuchsen, waren auf der 50 m breiten Promenade verteilt. Die Bäume wurden in Anwesenheit von Schah Abbas I. gepflanzt, Gold- und Silbermünzen wurden als Dünger beigegeben. Die Kunde dieses spektakulären Boulevards gelangte an den Hof Ludwigs XlV., der seinen Landschaftsarchitekten Le Nôtre mit der Neugestaltung der Jardins des Tuileries beauftragte. Als 1670 die Stadtmauer geschliffen wurde, konnte Le Nôtre seine Raumachse über die Grenzen des Gartens fortsetzen. Von Bäumen gesäumt prägt sie als Avenue des Champs-Elysées die Stadt bis heute.[3]

Eine detaillierte Zeichnung des französischen Malers Eugène Flandin aus dem Jahr 1851 gibt Aufschluss über das Innere des Vierzigsäulenpalasts. Der Grundriss des Pavillons reflektiert den persischen Einfallsreichtum – der freie Aussen- und der umschlossene Innenraum werden in eine so enge Beziehung miteinander gebracht, dass es schwer zu sagen ist, wo der eine beginnt und der andere endet. Die Eingangshalle ist nicht als Hohlraum im Innern einer Masse entstanden, sie wird durch raumdefinierende Elemente wie Platten, Stützen oder Massen begrenzt und architektonisch erlebbar gemacht. Dies entspricht dem Ideal der Raumvorstellung der Moderne, die in die westliche Architektur erst mit den Prairie Houses von Frank Lloyd Wright um 1910 oder 1951 mit Ludwig Mies van der Rohes Farnsworth House einzog.

Eine der grössten Leistungen des islamischen Mittelalters ist die Entwicklung des Basars zu einem im Stadtzentrum gelegenen geschlossenen Baukomplex. Geschäftszentren dieser Art gab es weder im alten Orient noch in der klassischen Antike oder im europäischen Mittelalter. Der Basar ist somit möglicherweise das einzige grundlegende Abgrenzungskriterium der orientalischen Stadt, das seine Wurzeln nicht schon im alten Orient hat und damit als eigenständiges islamisches Kulturerbe angesehen werden muss.[4] Bauten wie der Basar-e Honar, ein langgestrecktes Raumgefüge, das regelmässig einfallende Lichtbündel erhellen und das den Charakter eines Innengangs mit beidseitig eingebauten «Schränken» hat, wurden zum Vorbild der französischen Passagen in Paris und Brüssel und der italienischen Gallerie in Mailand und Neapel, die sich unter ihren prachtvollen Glasdächern zu Kathedralen des Handels entwickelten.

Schahs und Architekten auf Bildungsreise

Naser al-Din Schah bereiste 1873 als erster persischer Monarch Europa. In der Folge erhielt Teheran einen Hauch europäischen Flairs durch ein der Victoria and Albert Hall in London ähnelndes Theater sowie durch eine Turmuhr im Stil des Big Ben. Auch das erste fünfstöckige Gebäude in Teheran, Shams ol-Emareh, das Naser al-Din Schah im Jahre 1861 im Golestanpalast errichten liess, zählt zu den frühen Bauten, bei denen man westliche Einflüsse an der Fassade erkennen kann: Doppelsäulen, Stützen, Bögen, Rundfenster und längliche Balkone. Diese Elemente gehen auf die Bauten von Andrea Palladio zurück, die persische Architekten allerdings nur aus Erzählungen und Postkarten kannten.

Rund 40 Jahre später, im Mai 1911, reiste Le Corbusier nach Prag, Wien, Budapest, Istanbul, Athen und Pisa. Die Entdeckung des Bautyps Moschee mit ihrer einfachen Geometrie erschloss ihm die Theorie der Moderne: «L’architecture est le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière.»[5] Le Corbusier reiste nicht nach Rom wie andere Architekten auf ihrer «Grand Tour» – er reiste in den Orient. Und auch Walter Gropius hielt sich 1907/1908 für fast ein Jahr zum Studium maurischer Kunst in Spanien auf. Beiden Architekten boten orientalische Kunst und Architektur ein lebenslanges Formen- und Ideenreservoir für die Raumgestaltung und Proportionslehre.

Mohsen Foroughi entwarf 1935 die Khane Bina. Er hatte an der Ecole des Beaux-Arts in Paris diplomiert und war massgeblich an der Gründung der Fakultät der Schönen Künste an der Universität Teheran beteiligt. Der Bau folgt den Prinzipien des Neuen Bauens: Licht, Luft, Sonne – und das in einem Land, in dem vorwiegend introvertierte Hofhäuser entstanden. Foroughis Haus verwirklicht das «befreite Wohnen». Doch im Innern sind Anklänge an iranische Bauten zu finden: so zum Beispiel in einer Art «Orsi-Fenster» im Wohnraum, der wiederum stark an die Villa Turque erinnert, die Le Corbusier nach der Rückkehr von seiner «Voyage d’Orient» entworfen hat.

«Ich bin Maler»[6]

Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete die Ausstellung «Meisterwerke muhammedanischer Kunst» 1910 in München, die grossen Widerhall in der Malerei von Robert Delauney, August Macke, Edvard Munch, Wassily Kandinsky und Paul Klee fand. Diese Künstler waren nicht mehr an den exotischen Inhalten orientalischer Kunst interessiert, sie faszinierten die zweidimensionalen Miniaturen (vgl. «Paradiesisches Abbild», TEC21 38/2018), die ihren Bestrebungen für eine neue Malerei entsprachen. Danach sollte das Bild ein zweidimensionaler Gegenstand sein, und die Plastizität trat in den Hintergrund.[7]

Die Lehrer des Bauhauses waren von den Formen und Farben der islamischen Länder, ihren Bauten, Stoffen und Kunstgegenständen fasziniert. Dass sie sich intensiv mit den Prinzipien islamischer angewandter Kunst auseinandersetzten, machen die Experimente der Metallwerkstatt von Wilhelm Wagenfeld eindringlich deutlich. Die konsequente Entwicklung dieser Neuanfänge führte im 20. Jahrhundert schliesslich zur Ablösung des gegenständlichen Dekors. Durch den Umgang mit geometrischen Keramiken sowie Teppichmustern der islamischen Welt gelang es den Vertretern des Bauhauses auf vielfältige Weise, ihre abstrakte Kunst im täglichen Leben zu entwickeln.

Neues Bauen aus erster Hand

Gabriel Guévrékian war einer der ersten Architekten, die um 1930 in den Iran zurückkamen. Der Iraner armenischer Abstammung hatte in Wien bei Oskar Strnad studiert und pflegte Freundschaften zu Josef Hoffmann und Adolf Loos. Er lebte in Paris, war mit Le Corbusier bekannt und Mitbegründer und erster Sekretär des Congrès internationaux d’Architecture Moderne (CIAM). Dank ihm und seinen Mitstreitern bekam der Iran die Moderne aus erster Hand vermittelt.

Das Neue Bauen in Europa entstand nach dem Ersten Weltkrieg und der Währungskrise, um die dramatische Wohnungsnot zu bewältigen. Doch der Iran war weder vom Krieg betroffen noch eine Industrienation. Vor diesem Hintergrund richtete sich das Neue Bauen an eine andere Klientel, an die Elite des Landes. Es wurde viel früher als in Europa zum in Inseraten und Artikeln propagierten Lifestyle. Die Oberschicht strebte eine Architektur nach europäischem Vorbild an. So wanderte die Frankfurter Küche, die Margarete Schütte-Lihotzky für den standardisierten Siedlungsbau entwickelte, in den Iran und befriedigte dort die Bedürfnisse einer anderen Gesellschaftsschicht.

Goldenes Zeitalter der Moderne

Die Bauwirtschaft im Iran entwickelte sich nach den Leitbildern der Moderne weiter, was am Ende der Pahlavi-Zeit zu einer unheilvollen Kombination von Investorenarchitektur im westlichen Stil und Ende der 1960er-Jahre – wie in Europa und den USA – zur Krise der modernen Architektur führte. Ausländische Planer halfen riesige städtebauliche Projekte zu entwickeln, zum Beispiel ein neues Stadtzentrum im Norden und %%gallerylink:42600:die Siedlung Shahrak-e Ekbatan%% im Westen der Stadt, eine der grössten Wohnsiedlungen im Mittleren Osten. Sie griffen den International Style der amerikanisch-europäischen Moderne auf, der suggerierte, dass die neue Architektur ohne Berücksichtigung klimatischer, geografischer und kultureller Bedingungen international und von örtlichen Gegebenheiten abgetrennt sei.

Junge iranische Architekten suchten neue Wege, indem sie sich auf die Theorie von Robert Venturi und Denise Scott Brown bezogen. Das «Goldene Zeitalter der iranischen Moderne» begann: Bögen, Gewölbe, Kuppeln und weitere Elemente des traditionellen architektonischen Vokabulars wurden neu angewendet. Kamran Diba und Nader Ardalan fanden einen Ausweg aus dem Diktat der Moderne, indem sie auf «Komplexität und Widerspruch» der eigenen Architektur verwiesen.

Das weitläufige Museum für Zeitgenössische Kunst aus dem Jahr 1979 in der Hauptstadt zeichnet sich durch einen raffinierten Schnitt aus, der traditionelle Bauelemente der Wüstengegenden wie Windtürme mit modernen Elementen verbindet. Im Kontrast zum eher bescheidenen Äusseren verbindet eine grosszügige, zweigeschossige Eingangshalle das Strassenniveau mit der Ausstellung. Die Besucher gehen über eine Rampe zu den Ausstellungsräumen, sodass sie das Gebäude vom Boden bis zum Dach durchwandern. Sie erfahren die verspielte Qualität der hügeligen Dachlandschaften in Wüstenstädten.

Iranisch-islamische Identität

Die Islamische Revolution ist eine Kulturrevolution. Die politischen und sozialen Umwälzungen von 1979 führten zu einem Bruch zwischen der Architektur vor und jener nach der Revolution: Gesellschaftliche, kulturelle, nationale und religiöse Ideale wurden neu betrachtet, und die Vorstellung, eine islamisch-iranische Identität zu schaffen, wurde zur Leitidee. Zudem verlief die iranische Revolution mit ihrem Bestreben zurück zu den Wurzeln parallel zur Architekturströmung der Postmoderne der 1980er-Jahre.

Die Bedeutung der Postmoderne kurz nach der Revolution veranschaulichen die frühen Arbeiten des Architekten Mohamad Reza Ghaneei. Sein Projekt für die Mensa der Universität in Yazd zeigt, was der neue Staat unter «Verjüngung der islamischen Kultur» verstand: Säulen und auskragendes Dach verweisen auf den Vierzigsäulenpalast in Isfahan, den der Architekt äusserlich aufgreift, aber als «decorated shed» mit einem modernen inneren Hightech-Kern versieht.

Die heutige Architektengeneration

Die Garde der gestandenen Revolutionsarchitekten tritt langsam ab, und eine unabhängige junge Generation, die in der Architekturzeitschrift «Memar» ihr Forum gefunden hat, bestimmt die Szene (vgl. «Contemporary Iranian Architects I»). Wie immer beginnt das Neue im Kleinen. Einer der ersten Aufträge von Reza Daneshmir und Catherine Spiridonoff von Fluid Motion Architects war, ein aufgrund der Einhaltung islamischer Gesetze unbenutzbares Schwimmbad in eine Möbelgalerie umzubauen: Nicht Form oder Textur des Gebäudes stand im Vordergrund, sondern die Art und Weise, wie sich die Architektur auf den Standort und ihre eigene Geschichte bezieht.

Bei ihrem Projekt für die Valiasr-Moschee in Teheran werden Ort, Raum und alles, was darin enthalten ist, zur dominanten Disziplin. Die Architekten schlugen vor, die Moschee als Teil der Stadtlandschaft zu entwickeln, die sich auf einer Seite auf den Park mit dem darin gelegenen Shar-Theater bezieht und auf der anderen Seite die städtische Struktur der Enqelab-Strasse aufnimmt. Die Architekten setzen ihre Vorstellung der Stadtlandschaft durch, sodass die Moschee in der gleichen Höhe ausgeführt wird wie die angrenzenden Bauten und eine Balance zwischen niedrigen und hohen Bauten eingehalten werden konnte.

Architektur als existenzieller Halt

Im Sharifi-ha-Haus in Teheran verschmilzt Alireza Taghaboni das traditionelle nach innen gerichtete Hofhaus der Wüstenregionen, das aus einer Sommer- und Winterwohnung besteht, mit dem nach aussen gerichteten Terrassenhaus der Gebirgsregionen und der Wohnhäuser am Kaspischen Meer mit ihren Loggien und nach aussen gerichteten Balkonen. Vergleicht man das Sharifi-ha-Haus mit den traditionellen iranischen Häusern, findet man die wesentlichen Elemente der iranischen Wohntypologie wieder: den «hajat», den Wohnhof, das «biruni», den Empfangsbereich, das «andaruni», den Wohnbereich, und einen «houz-khaneh», den zentralen, unterirdischen Sommerwohnraum mit Wasserbecken. Auch die erwähnte Unterteilung in Sommer- und Winterwohnung interpretiert Alireza Taghaboni unkonventionell: Auf drei Stockwerken entwickelte er Holzboxen, die im Sommer herausgedreht werden und auskragende Volumen mit breiten Sommerterrassen bilden, während sie in den kalten Wintermonaten geschlossen und mit minimalen Öffnungen in Erscheinung treten.

Mit ihrer mehr als fünftausendjährigen Geschichte lässt sich die persische und iranische Architektur nicht in das herkömmliche Denkschema Abendland – Morgenland oder gar in die heute so verbreitete Gegenüberstellung islamischer Fundamentalismus – westliche Demokratie pressen. Orient und Okzident sind in vieler Hinsicht miteinander verwandt. Dass Verwandtschaft nicht Gleichheit bedeutet, versteht sich von selbst.


Anmerkungen:
[01] Pierre Loti, Vers Ispahan. Ed. Calmann-Lévy, Paris 1904.
[02] Thomas Meyer-Wieser, Architekturführer Iran: Teheran/Isfahan/Shiraz. DOM Publishers, Berlin 2016; vgl. TEC21 16/2017.
[03] Thomas Meyer-Wieser, «Die Geometrie des Pittoresken». Vorlesung in der Reihe «Architektur und Landschaft», HSR Rapperswil 2003.
[04] Eugen Wirth, Die orientalische Stadt im islamischen Vorderasien und Nordafrika. Philipp von Zabern Verlag, Mainz 2000.
[05] «Architektur ist das kunstvolle, korrekte und grossartige Spiel der unter dem Licht versammelten Baukörper.» Le Corbusier, Vers une Architecture. Collection de L’Esprit Nouveau, Paris 1923.
[06] Paul Klee, Tagebücher 1898–1918, hrsg. von der Paul-Klee-Stiftung. Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1988.
[07] Annette Hagedorn, «Die Suche nach dem Orient», in: Markus Hattstein, Peter Delius (Hg.), Islam: Kunst und Architektur. Könemann, Köln 2000.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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