Zeitschrift

dérive 96
Antimodern, antidemokratisch, revisionistisch – Die extreme Rechte im Stadtraum
dérive 96
zur Zeitschrift: dérive
Herausgeber:in: Christoph Laimer

Was ist der Michaelerplatz? Ein urbaner Ort oder Disneyland mit Klimafitness?

1. August 2024
In der Zeitschrift ›Falter‹ (20/24) wurde ein Dialog zwischen zwei Wiener Architekten geführt, um die Umbauarbeiten zu kommentieren, die den Platz abkühlen sollen. Wasserspiele, kleine Trinkbrunnen, Hochbeete und Sitzplätze werden angelegt, und neun neue XXL-Bäume, sogenannte Blauglockenbäume werden gepflanzt. Auch soll das historische Kopfsteinpflaster durch einen anderen Belag ersetzt werden, um darauf besser mit dem Rad fahren zu können. Es handelt sich also um Veränderungen, die derzeit in Wien an zahlreichen Plätzen stattfinden und dort meist wohlwollend begrüßt werden. Warum nicht hier? Die internationale Initiative ›SOS Michaelerplatz‹ von Architekturexpert:innen und Kunsthistoriker:innen schrieb dem Wiener Bürgermeister einen Brief, in dem sie ihre Sorge um diesen urbanen Platz ausdrücken und den Verlust des Weltkulturerbes befürchten.

Architekt Johannes Zeininger ergreift im angesprochenen Interview Partei für die Urbanität des Platzes als einen realen Ausdruck des Alltagslebens im Stadtzentrum. Baustellenlärm, Urin der Fiakerpferde, Menschen trinken Kaffee im hässlichen, sogenannten Gastgarten von Starbucks, all diese Nebenerscheinungen machen die Urbanität einer Stadt aus. Die geplante Veränderung bedeutet einen weiteren Schritt in Richtung Disneyland, weil man nur mehr stereotype Gestaltungselemente wie in einer Einkaufsmall bekommt. Paul Katzberger, der auch den Umbau vornimmt, argumentiert klimatechnisch und funktional und hofft, dass die Urbanität keine Einbrüche erleidet. Es geht letztlich um Ordnung und Unordnung, Ableitung des Pferdeurins und Verlegung des Standplatzes. Den Fokus auf den Ort zu legen, hält er für übertrieben, so wie Loos einst ein bürgerliches Symbol mit seinem Haus geschaffen habe, sei die neue Platzgestaltung ein Symbol für den veränderten Umgang mit der Natur, die Bäume seien Schattenspender für die kommenden heißen Sommer.

Der Michaelerplatz als architektonischer und kultureller Erinnerungsraum

Nun mag dieser neue Imperativ einer Naturierung der Stadt, dem sich die Stadtgestaltung zu unterwerfen hat, in zahlreichen Fällen zweckmäßig sein, im Falle des Michaelerplatzes handelt es sich jedoch um reine Symbolpolitik. Dem:der unbedarften Stadtkonsument:in wird vermittelt, dass er:sie überall den Anspruch auf einen Miniaturpark erheben kann und die Politik diesen Wünschen nachzukommen hat. Was an anderen Orten sinnvoll sein mag, ist jedoch an diesem prominenten Wiener Ort deplatziert. Denn dieser Platz ist ein Speicher des kollektiven, kulturellen Gedächtnisses. Natürlich hat der Ort selbst kein Gedächtnis, aber er ermöglicht die Konstruktion von kulturellen Erinnerungsräumen, weil sie die Erinnerung beglaubigen und im Boden verankern. Damit verkörpern sie eine Kontinuität der Dauer, die das kurzlebige Gedächtnis der Individuen übersteigt. Insbesondere der Familiengeschichte der Habsburger kann hier der Übergang von der individuellen in die kollektive Erinnerung gelingen.

Aus der Perspektive der Stadtgeschichte, die natürlich eng mit den Habsburgern verbunden ist und wohl den Hintergrund des Städtetourismus bildet, stellt die Achse Michaelerplatz– Josefsplatz–Augustinerstraße einen Kern der barocken Stadt dar, die bis zur Karlskirche angelegt werden sollte, was aber wegen der Verteidigungsanlagen damals nicht möglich war, und daher als eine imaginäre Achse verblieb. Stadthistorisch betrachtet treffen sich hier zwei zentrale Verkehrswege, die schon zur Römerzeit bestanden und den Grund für die Ansiedlung einer kleinen Gemeinde und Errichtung einer Kirche bildeten. Auch die Bürgerstadt hatte durch die Nutzung des Vorplatzes zur Michaelerkirche mit Marktständen Anteil an der Platzgeschichte und es haben sich politisch bedeutende Ereignisse zugetragen. So errichtete die akademische Legion am 26. und 27. Mai 1848 im Zuge der Revolution Barrikaden, der Kaiser hatte die Stadt wenige Tage zuvor schon verlassen. Anton Ziegler malte 1848 ein romantisches Bild der Barrikaden im Fackelschein mit der Hofburg im Hintergrund.

Aber wenn dies nun nachrangig sein sollte und der Michaelerplatz im Zeichen der Klimafitness umgestaltet wird, indem er die Standardausstattung der Platznaturierung übergestülpt bekommt, haben wir es allenfalls mit einer Werbekampagne für pseudogrüne Politik, allerdings von einer roten Stadtregierung zu tun, die hier grünes Mimikry betreibt und zeigt, dass sich auch Kulturräume den neuen Zeichen der Ruralität fügen müssen. Neun Bäume, Hochbeete und Wasserspiele zu Gesamtkosten von acht Millionen sollen eine neue Urbanität verkünden. Schattenproduktion für das Chilling der Tourist:innen, um den Anforderungen eines Disneylands zu entsprechen.

Antike und Mittelalter. Kreuzung zentraler Verkehrswege und frühe Siedlung

Der Michaelerplatz bildet den Schnittpunkt zweier zentraler historischer Achsen in Wien, jene Schrägachse, die von der Augustinerstraße und der Herrengasse gebildet wird und an der sich wichtige Plätze vom Albertinaplatz über den Josefsplatz bis hin zur Freyung befinden und der zweiten Achse, die seit dem Mittelalter Tuchlauben, Kohlmarkt und Burgtor verbindet. Die erste Achse ist ein als Hochstraße bezeichneter Verkehrsweg, geht aus der dem römischen Limes entlanglaufenden Straße hervor und wird im 14. Jahrhundert zur Hauptachse des Herrenviertels um den Kern der alten Hofburg herum – zu einem Zeitpunkt, als die Michaelerkirche schon hundert Jahre alt ist. Die zweite Achse geht vom sogenannten Pailertor aus, das sich auf der Kreuzung Kohlmarkt/Graben (Ecke Tuchlauben und Naglergasse) befand und die ehemalige ›porta decumana‹ des römischen ›castrums‹ darstellte. Also ein Tor, durch das der ›decumanus‹ das castrum verließ und in Richtung der späteren Hofburg führte. Es war eine Straße, die durch sakrale Gründungsriten entstanden war und zu Römerzeiten gewissermaßen noch sakrale Energie aus der heiligen Mitte des alten castrums emittierte. Die Hollein’sche Grabungsstätte liegt nicht zufällig genau an dieser Schnittstelle. Am Michaelerplatz kreuzen sich zwei uralte römische Fernstraßen und markieren damit einen Ort, der schon aufgrund dieser Genese eine singuläre Stellung aufweist, die ihn als Topos der Wiener Geschichte in den Raum einschreibt und im kollektiven Gedächtnis der Stadt speichert.

Die Römer pflegten übrigens an solchen Kreuzungen in der griechischen Tradition des Hermes merkurische Stelen aufzustellen. Ob sich eine solche dort befand, wissen wir natürlich nicht, aber wir wissen, dass zu Beginn des 13. Jahrhunderts eine Tochterpfarre zu St. Stephan entstand und die zunächst spätromanische Michaelerkirche errichtet wurde. Heute wird an diesem Ort die Baugeschichte der Stadt wie in einem architektonischen Drama vorgeführt. Die Kirche wurde später gotisiert, der Glockenturm zeugt noch heute davon, auch die Fassade zeigt trotz ihrer Bearbeitung im 18. Jahrhundert noch gotische Spuren. Daneben stehen die barocken Bürgerhäuser, das sogenannte große und kleine Michaelerhaus. Die gegenüberliegende Hofburg belegt die wechselnden Beziehungen zwischen der Stadt und dem Kaiserhaus, spannungsreich insbesondere in Zeiten der Reformation, baugeschichtlich reicht der Michaelertrakt vom Barock bis zum Historismus und begegnet der Stadt mit einer Geste imperialer Noblesse. Das Palais Herberstein ist ein elegant barockisiertes Zinshaus aus der Gründerzeit und schließlich sehen wir das für die Architekturgeschichte der Moderne berühmt gewordene Loos-Haus, das polemisch als Haus ohne Augenbrauen bezeichnet wurde.

Der Michaelerplatz ist ein faszinierender Ort, weil er stets unter dem Druck stand, eine Vereinigung unterschiedlichster Ansprüche und Bauaufgaben zu versuchen, ohne dass diese Widersprüche jemals gelöst werden konnten. Er war auch eher ein Terrain der Stadtbürger und der Kirche als des Hofes. Allein der Name, der auf den heiligen Michael zurückgeht, zeugt schon davon, dass sich hier kein kaiserlicher Namenspatron durchsetzen konnte. Die Baugeschichte der Stadt und ihre jeweiligen politischen und stilistischen Formen spiegeln sich in diesem Platz, bürgerliche, kirchliche und kaiserliche Impulse prägen den Ort.

Barock. Politik der Orden und kaiserliche Residenz

Man muss zunächst in das 17. Jahrhundert zurückgehen, als sich die Umwandlung Wiens von der mittelalterlichen Bürgerstadt in die barocke Residenzstadt vollzieht. Wir befinden uns in der Zeit der Gegenreformation, in der sich zuvor große Teile des Magistrats und der Bevölkerung dem protestantischen Milieu angenähert hatten und die Pfarre dem Reformorden auf Wunsch des Kaisers der Barnabiten anvertraut wurde. Die Hinrichtung des Bürgermeisters Martin Siebenbürger und die neue Stadtverfassung kündigen jedoch einen tiefgreifenden Wandel an, der das Verhältnis der ›civitas‹ zur kaiserlichen Autorität neu fasst und im Zuge der erfolgreichen Gegenreformation eine neue Phase der Bauentwicklung ankündigt. Die Habsburger beschließen nach der politischen Befriedung und dem Ende der ersten Türkenbelagerung, die Stadt zu ihrem Hauptsitz zu machen. Die Einführung der Hofquartierspflicht schafft die Voraussetzung für die Transformation und Verschmelzung des mittelalterlich-gotischen Stadtgefüges zu einer neuen Typologie des barocken Mietshauses.

Die katholischen Reformorden liefern die architektonischen Strategien einer neuen Urbanität durch die Überformung der mittelalterlichen Stadt mit der neuen Funktion einer kaiserlichen Residenz. Zunächst erfolgt die Anlage neuer Kirchengebäude und Klöster. Im Inneren der älteren Kirchen wird zumeist das Langhaus mit der Apsis wieder verbunden, das zuvor abgetrennt war und außen werden die Fassaden vorsichtig in strengem Stil barockisiert. Der synkretistische Charakter der Architektur der Reformorden zeigt sich in der schlichten Dekoration der Fassade mit einer durch die Überarbeitung strengen Pilasterordnung, bei der der vertikale Charakter der Kirche an den Turm angepasst wird und erhalten bleibt. Die Reformorden legen in diesem Zeitraum in Wien zahlreiche neue Plätze an, teils durch Neubau von Kirche und Kloster (Franziskanerplatz, Dominikanerplatz, Piaristenplatz), teils durch Umgestaltung bestehender Strukturen wie auch beim Michaelerplatz. Allerdings verzichtet man auf das Monumentale, wie es etwa bei den Jesuiten mit ihrem gegenreformatorischen Programm einer Rhetorik der Architektur der Fall war.

Wenn man Wien mit Paris vergleicht, so fällt ein Unterschied in der Gestaltungspolitik auf. Es gibt keinen vergleichbaren ›place royale‹ wie in Paris mit einer dominanten kaiserlichen Symbolik wie er im französischen Absolutismus gestaltet wurde. Es gibt auch keine vergleichbaren städtebaulichen Konzepte der großen Achsen. Lieber hält man sich an die Tradition der Szenographie, am Beispiel der ephemeren Architektur oder an der Festgestaltung mit temporären Triumphbögen. Nur die Errichtung der Karlskirche kann als ein entsprechender Versuch gewertet werden. Es ist kein Zufall, dass Camillo Sitte mit dem Idealbild des Piaristenplatzes einen wesentlichen Beitrag zur Architekturtheorie der Moderne geleistet hat. Erst mit der Öffnung der Hofburg zur Stadt hin wird die Errichtung eines Ehrenhofes am Michaelerplatz geplant. Es gibt unterschiedliche Vorschläge der damaligen Hofarchitekten. Hildebrandt orientiert sich an borrominischen Gestaltungen, die auf Schaffung von Freiraum durch Abbruch verzichten und eine Bebauung im System räumlicher Proportionen unter Berücksichtigung des bestehenden Straßenverlaufs entwerfen. Gebäude und Freiraum entwickeln sich dann so, dass die Trennung zwischen Architektur und Städtebau weitgehend aufgehoben wird. Fischer von Erlach der Jüngere (Josef Emanuel) entwickelt eine weit zurücktretende Front der Hofburg mit konvex-konkaver Gliederung und vergrößert so die Ausmaße des Platzes. Beide Architekten schlagen verschiedene Varianten der Kuppelbebauung vor, die unterschiedliche Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Platzes zeitigen. Letztlich setzt sich kein individueller Gestaltungswille durch, sondern das Beharrungsvermögen der vorhandenen urbanen Struktur sorgt für eine Öffnung vom Kohlmarkt aus und eine asymmetrische Entfaltung zur Michaelerkirche und Reitschule hin. Man ahnt nicht, dass Fischers Entwurf, obwohl für die nächsten 150 Jahre nicht realisiert, letztlich die Grundlage für die späthistoristische Gestaltung Ende des 19. Jahrhunderts bilden wird.

Wenn man den Michaelerplatz mit dem korrelierenden Josefsplatz vergleicht – wir befinden uns nun schon im 18. Jahrhundert – so ist der Josefsplatz als der einzige Wiener place royale eine hervorragende Synthese einer Bautätigkeit, die sich durch Vereinheitlichung der Fassaden an der Hofburg, der Bibliothek und Redoutensäle und der Augustinerkirche ermöglicht wurde, und mit den gegenüberliegenden Palais Fries und Pallavicini ein harmonisches Zusammenspiel erlauben. Gleichermaßen handelt es sich durch die Besitznahme des Monarchen um eine Verbindung mit diesem speziellen Topos und eine Demonstration neuer Subjektivität.

Barock. Vom Labyrinth zur Ordnung

Der Michaelerplatz ist ganz anders, er ist schwerer zu fassen und entspricht der Idee einer Stadt als einem ordnungsfähigen Labyrinth (Corradi). Anstelle eines regelmäßigen Raumes nach den Regeln des Cartesianismus liegt hier eine bedeutsame Unregelmäßigkeit vor, wie sie am besten durch Leibniz begründet wurde. In seiner szenographischen Theorie der Stadt spricht er von verschiedenen Perspektiven der Monaden, die zwar unterschiedliche Substanzen und auch Seelen aufweisen, aber damit das Wesen der Stadt erfassen. Insofern handelt es sich um eine eigene Einheit, die aber aus verschiedenen Darstellungen kommt und entspricht damit genau dem Gefüge des Michaelerplatzes, der hier mittelalterliche Strukturen, räumliche Abfolgen der Renaissance bis zum Barock im Namen einer durch das höfische System erforderlichen Zentralität vereinigt. Die Kombination aus kirchlichen, bürgerlichen Baubeständen geht mit der höfischen Architektur eine gleichgewichtige Platzform ein, indem der Absolutismus seinen Anspruch auf Monumentalität zurücknimmt und der anderen Stadt zu ihrem Ausdruck verhilft. In diesem Zusammenhang ist auch das Hoftheater oder Comédie-Haus zu nennen, das 1741 anstelle des alten Ballhauses errichtet wurde und in den Platz hineinragt. Dieser Vorgänger des Burgtheaters hat auch eine wichtige vermittelnde Rolle zwischen Burg und Stadt, weil die Repräsentation durch Architektur durch dieses Gebäude ersetzt wird, das die Kultur des Landes zu vermitteln hat und immer erfolgreicher wird. Man denke nur an die verschiedenen Uraufführungen von Mozarts Opern und anderen Werken. Das Hoftheater ist ein Provisorium, das sich aber bis 1889 bewährt und damit den Status quo des Michaelerplatzes aufrechterhält, weil es zur Begründung dient, warum eine weitere Platzgestaltung nicht möglich sei.

Wenn man die Phase des Übergangs vom Barock zum Klassizismus betrachtet, so wird sie durch einen Pluralismus gekennzeichnet, der das Verhältnis vom intentional klaren Josefsplatz zur Kontingenz des Michaelerplatzes charakterisiert. Einerseits die alte Wurzel eines Universalismus, wie er von Karl VI. und dem Bau der Karlskirche durch Fischer von Erlach symbolisiert wurde und andererseits ein Pluralismus durch die politische und territoriale Situation des Kaiserreichs und ihrer städtischen Spiegelung. Die Reformpolitik des Josephinismus bewegt sich innerhalb dieser bipolaren Struktur und kann weder auf das eine noch das andere verzichten. Es gibt keine Synthese außerhalb. Radikale Umbaulösungen der Hofburg wie von Jean Nicolas Jadot oder Balthasar Neumann müssen daher scheitern, weil sie nicht in der Lage sind, diesen Widerspruch zu vereinen.

Historismus und Moderne. Neobarocker Mythos oder Loos als Urbanist

Die Städtebaupolitik des 19. Jahrhunderts orientiert sich zunehmend am Modell des Barocks, der zum Symbol der kaiserlichen Architektur und in weiterer Folge auch Ausdruck einer spezifisch österreichischen Identität wird. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts werden große Projekte in Angriff genommen, das Kaiserforum, die neue Hofburg und die Michaelerfront. Man kann dies alles als ein Gegenmodell zum Liberalismus verstehen, der die Bautätigkeit der Ringstraße bestimmt und eigentlich eine Gegenreaktion zum Neoabsolutismus darstellt. Für die Front zum Michaelerplatz greift man nun auf den alten Entwurf Josef Emanuel Fischers von 1730 zurück, der sich in seiner urbanen Haltung auf die Karlskirche bezieht und damit die Position zentraler Macht und Autorität symbolisch setzt.

Sein Vater, Johann Bernhard Fischer von Erlach, hatte bereits damals, insbesondere durch die Reliefs der beiden Säulen, den habsburgischen Mythos durch Szenen aus dem Leben des Karl Borromäus oder den Säulen des Herkules als eine Weltmacht formuliert, aus historischer Sicht damals besser verständlich und begründbar als Ende des 19. Jahrhunderts, als diese absolutistische Monarchie bereits eine europäische Ausnahme darstellte. Zu Fischers Zeit bestand ein Kontinuum des Barocks zwischen der neuen Symbolik eines überlegenen bis auf die Antike zurückgeführten Herrscherauftrags mit universalistischer Tendenz und einer Häresie, die diesem Anspruch zurückhaltend gegenüberstand, aber nicht widerständig war.

Nun, 150 Jahre danach, war die Welt eine andere, gleichwohl sind die Historisten und Architekten Karl Hasenauer und Ferdinand Kirchner daran interessiert, die Kontinuität und den Status quo zu erhalten und in eine neobarocke Ausstattung unter Berufung auf Fischer überzuführen. Die Michaelerfront soll nun so entstehen, wie man sie 1740 erträumt hatte, diese ideologische Motivation beruht auf einem Kanon, der sich in den letzten zweihundert Jahren herausgebildet hatte.

Durch die Schleifung der Militäranlagen und zeitgleiche Erweiterung des Hofburgkomplexes zu den westlichen Vorstädten hin bekommt die alte Achse Kohlmarkt–Widmertor, (das Eingangstor vom Westen aus gesehen) aufgrund der neuen Verkehrsströme große städtebauliche Bedeutung und wertet auch den Kohlmarkt auf. Alt- und Neustadt kommen mehr in Kontakt miteinander als je zuvor. Übrigens hat Peter Nobile, der 1821 das äußere Burgtor errichtet hatte, bereits an eine Achse zum Kohlmarkt hin gedacht und einen Fassadenentwurf für die Hofburg geliefert, der auch das Hoftheater noch integriert hätte.

1889 wird die Verordnung zur Umsetzung des Fischer’schen Plans von Kaiser Franz Josef unterschrieben und die Ausführung an Ferdinand Kirschner übertragen. Hasenauers Entwurf sieht auch eine große Mittelkuppel über der Exedra vor, die im Fischer-Projekt gar nicht vorhanden war, möglicherweise auf dem Dreikuppelentwurf von Johann Ferdinand Hetzendorf von Hohenberg und Nikolaus Pacassi zurückgeht, aber bei Hof Gefallen gefunden hatte. Interessant ist der Umstand, dass die Mittelkuppel sich aus Sicht der Reichskanzlei in einer asymmetrischen Position befindet und der Ordnung von der Stadtseite aus der Vorzug gegeben wurde. Die Fassade der Reichskanzlei verzichtet auf die Frontsymmetrie und gibt damit den prioritären Anspruch einer Repräsentation auf. Das Ergebnis entspricht allerdings der Zeit des Hochbarocks mit ihrer Monumentalität und Axialität, es imaginiert eine barocke Selbstvollendung und Unvergänglichkeit, trifft aber auf eine sozial und kulturell völlig veränderte Lage, und ist zudem nicht optimal auf diesen städtischen Kontext anwendbar. Letztlich ist es Ausdruck einer Fortschreibung des habsburgischen Mythos oder auch einer historistisch unterstützten Ideologie, die bereits eine Ahnung ihres eigenen Verfalls in sich trägt und sich daher umso deutlicher artikulieren möchte. Man erspürt schon die paradoxe Situation des kommenden Untergangs eines Reichs, das über 700 Jahre währte.

Den Einbruch der Moderne exemplifiziert Adolf Loos durch das Haus Goldman-Salatsch. Loos denkt nicht an eine konventionelle Anpassung im Sinne des historistischen Dekors und ruft damit heftige Polemik hervor, wie durch den Ausspruch des „Hauses ohne Augenbrauen“ belegt ist. Trotzdem wäre es falsch, Loos eine historische Ignoranz vorzuwerfen. Im Gegenteil, Loos hält den Stil der Michaelerkirche als das Pendant zur anderen Seite für richtunggebend. Er meint in Trotzdem damit den nüchternen Klassizismus der Fassade über seiner gotischen Struktur und die toskanischen Säulen des Portals von Antonio Beduzzi. Eine Orientierung an der Hofburg-Fassade lehnt er ab, sein barockes Vorbild in Wien ist das Palais Liechtenstein in der Bankgasse, das die Monumentalität Roms ausdrückt. Barock konnte er nur ertragen, wenn er eine starke Tendenz zum Klassizismus hatte, den Neobarock wie den meisten Historismus überhaupt nicht. Loos ist auch keineswegs Funktionalist, wie er oft aufgrund der Ablehnung des Ornaments bezeichnet wurde, sondern ein Denker des Raums und einer Tradition der Klassik. Signifikant ist die deutliche Trennung des ziemlich reichen Sockelgeschosses vom nüchternen Obergeschoß, die zugleich eine Trennung von Geschäfts- und Privaträumen darstellt. Das elegante Portal mit seinen Säulen aus Cipollino-Marmor stellt eine Beziehung zum öffentlichen Raum her und durch die Präsentation der wertvollen Waren im Fenster eine Fortsetzung des Kohlmarkts. Loos wollte ein urbanes Gebäude schaffen und einen bürgerlichen Kontrast zur höfischen Architektur herstellen.

Auch das zuvor errichtete Palais Herberstein hatte schon eine schön gegliederte Sockelzone mit Bögen und Rustica und durch das Café Griensteidl eine Verbindung zum öffentlichen Raum hin. Hier orientierte sich der Architekt Carl König in einer Weise an der barocken Hofburgfassade, die nach dem Urteil von Zeitgenossen als vorbildlich galt. Ein Problem des Gebäudes entstand aber gerade dadurch, dass es nun in eine Konkurrenz zur Hofburg geriet und ein vertraglich gesichertes Kuppelverbot bekam, das aber durch einen kuppelähnlichen Aufbau umgangen wurde. Dazu eine Anmerkung: als diese Kuppel 1936 abgetragen und ein zusätzliches Stockwerk errichtet wurde, hielt Josef Frank, ein König-Schüler, einen Vortrag, in dem er Kritik an den Veränderungen wegen Verpfuschung der Ecklösung übte und darauf pochte, dass König als ernsthafter Stilarchitekt etwas Neues im Rahmen der Großstadtarchitektur schaffen wollte, das nun verdorben worden war. Man war sehr überrascht, aus dem Munde eines Vorkämpfers der Moderne ein derart entschiedenes Eintreten für eine Gestaltung im Neobarock zu hören, das aber städtebaulich gut begründet war.

Gegenwart. Architektur oder Archäologie

Es ist Michel Foucault, der in seiner ›Archäologie des Wissens‹ die Metaerzählung unterbrechen möchte, die lineare Abfolge; der die Brüche in der Ideengeschichte durch die Umwandlung der Monumente in Dokumente zeigen möchte, um sie dann wiederum in Monumente zu verwandeln zu können. Es geht um die Freilegung der Spuren, um sie zur Sprache zu bringen. Hans Hollein unternimmt diese Aufgabe, indem er das Zentrum aus einer neuen Perspektive betrachtet. Der Platz wird zum Symbol und Gegenstand der Abstraktion, darin besteht nun seine architektonische Rolle. Das alte Zentrum lässt sich nicht wieder herstellen, man kann es nur andeuten. Anstelle der alten Verkehrsinsel geht Hollein in die Tiefe des leeren Raumes, um die Steine und Ziegel alter Gemäuer freizulegen und eine kleine unterirdische Galerie zu schaffen. Es ist der Gang ›ad inferos‹, nicht zufällig in der Nähe der alten Krypta in der Michaelerkirche. Er nimmt die Morphologie der uralten Achse Herrengasse–Augustinerstraße durch eine schräg transversale Anlage auf und relativiert damit den neobarocken Historismus der Einheit.

Dieses offene Grab, das wie eine Wunde wirkt, und die Abstraktheit des Platzes mögen einen Mangel an materieller Dichte aufweisen, der nun mittels Naturierung zu füllen ist. Ist die Verwandlung in Disneyland nun die passende Fortsetzung der Historie?

Manfred Russo ist Kultursoziologe und Sozialforscher in Wien.

Literatur
Brauneis, Richard & Perger, Richard (1977): Die mittelalterlichen Kirchen und Klöster Wiens. Wien/Hamburg: Zsolnay.
Corradi, Corradino (1999): Wien Michaelerplatz, Stadtarchitektur und Kulturgeschichte. Wien: Passagen Verlag.
Kristan, Markus (1999): Carl König 1841–1915. Ein neubarocker Großstadtarchitekt in Wien. Wien: Holzhausen Verlag.
Lichtenberger, Elisabeth (1977): Die Wiener Altstadt. Von der mittelalterlichen Bürgerstadt zur City. Wien: Deuticke.
Rukschio, Burkhardt & Schachel, Roland (1982): Adolf Loos, Leben und Werk. Salzburg/Wien: Residenz Verlag.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: dérive

Ansprechpartner:in für diese Seite: Christoph Laimermail[at]derive.at

Tools: