Zeitschrift
ARCH+ 176/177
Wohnen
Selbstorganisiertes Wohnen
15. Mai 2006 - Simone Kläser
Das selbstorganisierte Wohnen wird heutzutage mit dem Begriff der Baugruppe gekennzeichnet. Er fungiert als Sammelbezeichnung für alle Bautätigkeiten, die weder von einem einzelnen privaten Bauherrn noch auf Initiative eines öffentlichen oder privaten Bauträgers durchgeführt werden. Diese trockene Definition klingt, als wäre sie aus einer staatlichen Richtlinie oder Durchführungsverordnung entlehnt, der Eindruck täuscht jedoch. Der Begriff birgt Heterogenes, eine ganze Welt an Initiativen – das Bauen ist nur ihr kleinster gemeinsamer Nenner. Auch die Wurzeln der Baugruppen sind heterogen: Sie reichen von den historischen Genossenschaften als Teil der Wohnungsreformbewegung der 20/30er Jahre, den Kommunen und Wohngemeinschaften der 68er Zeit bis zu den sozialen und ökologischen Alternativmodellen der grünen Bewegung in den 80er Jahren.[x] Die sogenannten Bauherrenmodelle, die seit den 70er Jahren von Investorenseite aus als Kapitalanlage aufgelegt wurden, gehören nicht dazu.
Der Blick auf die Wurzeln ist insofern hilfreich, als er mit den Unterschieden auch die aktuellen Spezifika hervortreten läßt. Während in der Zeit zwischen den Weltkriegen der Schwerpunkt auf dem ökonomischen Problem der Wohnungsversorgung lag und die Genossenschaftskultur sich als eine Art Spin-Off der Gegenökonomie bildete, war die Triebkraft der 68er und 80er Jahre politisch- kultureller Natur und auf eine “Gegengesellschaft" gerichtet, die ihre ökonomischen Modelle finden mußte – unter Rückgriff auf die Historie. Beides trifft für die heutigen Baugruppen nicht mehr zu:
• Natürlich geht es im Wohnungsbau noch immer um Finanzierungsfragen und Rechtsformen, aber die Baugruppen haben nicht mehr den Stellenwert einer Gegenökonomie. Mit ihren Alternativen zu den herkömmlichen Wohnungsangeboten erweitern sie das Spektrum des Marktes und sind insofern marktkonform. Das bestätigt sich auch durch das neuere Interesse, das Investoren, Developer und Kommunen ihnen entgegenbringen.
• Und natürlich stehen auch die kulturellen Modelle, nach denen das Wohnen sich organisiert, weiterhin im Zentrum der Gruppenbildung. Aber es geht nicht mehr um eine “Gegengesellschaft". Die Initiativen aus den 68er und 80er Jahren haben ihr Selbstverständnis in der konfliktreichen Abgrenzung gegenüber den herrschenden Werten und Normen gewonnen, in den heutigen Baugruppen werden die ideologischen Auseinandersetzungen von einem Pragmatismus des Machbaren abgelöst.
• Das erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß es ein erweiterter Personenkreis ist, der sich für Baugruppen engagiert. War es damals überwiegend die jüngere Generation, die auf der Suche nach neuen Wohn- und Lebensformen aus dem Korsett bürgerlicher Domestikation ausbrach, so sind heute bei der Bildung von Baugruppen alle Altersklassen vertreten und eine generationenübergreifende Gruppenstruktur wird geradezu erwünscht. War es damals überwiegend die alternative Szene, die ihre gesellschaftliche Randstellung noch im Wohnen befestigen wollte, so finden sich heute Menschen aus allen Schichten in Baugruppen zusammen, wobei nicht mehr die Abschottung von, sondern die Vernetzung mit dem Umfeld angestrebt wird. Auch die Integration sozialer Randgruppen gehört vielfach zu den Zielen.
Gemeinschaftsprojekte haben heute den Charakter der Normalität. Darin spiegelt sich natürlich die Liberalisierung und der Wertewandel der letzten 35 Jahre wider, aber es steckt mehr dahinter: Selbstorganisation ist die neue Tugend einer Gesellschaft, die weder ihren Standard an sozialstaatlicher Versorgungsleistung aufrechterhalten, noch die Defizite auf die Kleinfamilie abwälzen kann. Das wiegt um so schwerer, wenn die Folgeprobleme des demographischen Wandels der Selbsthilfe überlassen bleiben. Baugruppen stellen die Kleinfamilie nicht in Frage, aber sie bauen Auffangstrukturen – emotionale wie materielle. Diese Auffangstrukturen sind dazu angetan, die engen Grenzen des Wohnens zu sprengen, nicht nur, was den circulus vitiosus der Privatisierung betrifft, sondern sie erstrecken sich auch in den Bereich der Daseinsfürsorge, der für die Kommunen immer schwieriger aufrecht zu erhalten ist. Baugruppen organisieren zum Teil bereits heute Alten- und Kinderbetreuung, Pflegedienste, aber auch Freizeit- und Kulturangebote.
Viele der Gemeinschaftsprojekte der 80er Jahre sind an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert, daran daß sie Kollektivität als Wert für sich gesetzt haben. Hier setzt der Pragmatismus der heutigen Baugruppen ein. Sowohl das Maß an persönlichem Engagement, d.h. wieviel Leistung jemand für die Gruppe erbringt, ist frei wählbar, als auch wieviel Gemeinschaftlichkeit jemand für sich realisieren will. Sollen jedoch gleichzeitig in der Gruppe Dienstleistungen angeboten werden, muß diese interne Kontingenz zu einer Professionalisierung führen, d.h. die Ergänzung von freiwilliger Hilfe mit bezahltem Service – und das ist teilweise bereits der Fall. Damit ein solches Modell tragfähig wird, bedarf es einer bestimmten Gruppengröße bzw. des Angebots dieser Leistungen in einem größeren Umfeld. Auch das ist in groben Umrissen bereits erkennbar. Solche Initiativen sind kein vorübergehendes Phänomen; sie werden sich schlicht und einfach deswegen vermehren, weil die Gesellschaft sie zu ihrem internen Funktionieren braucht. So betrachtet sind Baugrüppler die besseren Bürger.
Um einen Einblick in die Breite des Felds zu geben, das die Baugruppen abstecken, wurde eine Gruppensystematik entwickelt. Da es sich um einen Prozeß in progress handelt, kann sie nur vorläufig sein. Jede Gruppe ist mit einem für sie konstitutiven Merkmal charakterisiert. Dieses Merkmal kann auch in den anderen Gruppen auftauchen, ist dann aber nicht konstitutiv. Die Übergänge zwischen den einzelnen Gruppen sind nicht trennscharf, sondern gleitend.
A
Professionell initiierte Baugruppen weisen den geringsten Grad an Selbstorganisation auf. Es geht primär darum, die Kosten des Planens und Bauens zu reduzieren und sich in der Gruppe mehr leisten zu können, als dem Einzelnen möglich ist. Initiatoren sind häufig externe Dienstleister, die nicht nur die Bauherren zusammenführen, sondern darüber hinaus Beratung, Moderation und Projektsteuerung anbieten. Diese neue Form der Projektentwicklung wird zunehmend auch von Architekten wahrgenommen.
B
Special Interest Gruppen sind vor allem im Kontext der grünen Bewegung mit dem Anliegen von Umweltschutz, Nachhaltigkeit, ökologischem und energiesparendem Bauen entstanden. Die Wohnvorstellungen werden in diese Anliegen eingebettet. Neuerdings finden sich auch Gruppen zusammen, denen es vor allem um die Verwirklichung eines bestimmten Lebensstils in entsprechendem Ambiente geht.
C
Lebenssituationsgruppen vereinen Menschen in ähnlicher, meist schwieriger Lebenslage, die sie sozial ausgrenzt oder finanziell benachteiligt. Das trifft z.B. für alleinerziehende Mütter, Schwule/ Lesben und viele ältere Menschen zu. Die Organisation in der Gruppe erlaubt eine ökonomischere Lebensführung und bietet sozialen Rückhalt. In dem Maße, wie der Einzelne auf die Gruppe angewiesen ist, wird die Erhaltung der individuellen Autonomie bedeutsam.
D
Mehrgenerationengruppen lassen mit ihren gemischten Gemeinschaften die Großfamilie neu aufleben, allerdings ohne deren soziale Zwänge. Die Kompetenzen der Generationen werden zu einem symbiotischen Miteinander gebündelt. Es entsteht eine Art Generationenvertrag, der die gegenseitige Hilfe regelt.
E
Gemeinwesengruppen haben ihren Ursprung vielfach bereits in den 80er Jahren. Sie sind in ihren eigenen Ansprüchen entsprechend sozial und politisch motiviert und schaffen ein Umfeld, das mehr beinhaltet als die reine Wohnfunktion. Die Organisation des Zusammenlebens erfolgt nach selbstgesetzten Regeln. Gemeinwesengruppen funktionieren erst ab einer bestimmten Größe, die ein zwangloses soziales Leben erlaubt, das Kontakt wie Distanz frei wählbar macht.
Der Blick auf die Wurzeln ist insofern hilfreich, als er mit den Unterschieden auch die aktuellen Spezifika hervortreten läßt. Während in der Zeit zwischen den Weltkriegen der Schwerpunkt auf dem ökonomischen Problem der Wohnungsversorgung lag und die Genossenschaftskultur sich als eine Art Spin-Off der Gegenökonomie bildete, war die Triebkraft der 68er und 80er Jahre politisch- kultureller Natur und auf eine “Gegengesellschaft" gerichtet, die ihre ökonomischen Modelle finden mußte – unter Rückgriff auf die Historie. Beides trifft für die heutigen Baugruppen nicht mehr zu:
• Natürlich geht es im Wohnungsbau noch immer um Finanzierungsfragen und Rechtsformen, aber die Baugruppen haben nicht mehr den Stellenwert einer Gegenökonomie. Mit ihren Alternativen zu den herkömmlichen Wohnungsangeboten erweitern sie das Spektrum des Marktes und sind insofern marktkonform. Das bestätigt sich auch durch das neuere Interesse, das Investoren, Developer und Kommunen ihnen entgegenbringen.
• Und natürlich stehen auch die kulturellen Modelle, nach denen das Wohnen sich organisiert, weiterhin im Zentrum der Gruppenbildung. Aber es geht nicht mehr um eine “Gegengesellschaft". Die Initiativen aus den 68er und 80er Jahren haben ihr Selbstverständnis in der konfliktreichen Abgrenzung gegenüber den herrschenden Werten und Normen gewonnen, in den heutigen Baugruppen werden die ideologischen Auseinandersetzungen von einem Pragmatismus des Machbaren abgelöst.
• Das erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß es ein erweiterter Personenkreis ist, der sich für Baugruppen engagiert. War es damals überwiegend die jüngere Generation, die auf der Suche nach neuen Wohn- und Lebensformen aus dem Korsett bürgerlicher Domestikation ausbrach, so sind heute bei der Bildung von Baugruppen alle Altersklassen vertreten und eine generationenübergreifende Gruppenstruktur wird geradezu erwünscht. War es damals überwiegend die alternative Szene, die ihre gesellschaftliche Randstellung noch im Wohnen befestigen wollte, so finden sich heute Menschen aus allen Schichten in Baugruppen zusammen, wobei nicht mehr die Abschottung von, sondern die Vernetzung mit dem Umfeld angestrebt wird. Auch die Integration sozialer Randgruppen gehört vielfach zu den Zielen.
Gemeinschaftsprojekte haben heute den Charakter der Normalität. Darin spiegelt sich natürlich die Liberalisierung und der Wertewandel der letzten 35 Jahre wider, aber es steckt mehr dahinter: Selbstorganisation ist die neue Tugend einer Gesellschaft, die weder ihren Standard an sozialstaatlicher Versorgungsleistung aufrechterhalten, noch die Defizite auf die Kleinfamilie abwälzen kann. Das wiegt um so schwerer, wenn die Folgeprobleme des demographischen Wandels der Selbsthilfe überlassen bleiben. Baugruppen stellen die Kleinfamilie nicht in Frage, aber sie bauen Auffangstrukturen – emotionale wie materielle. Diese Auffangstrukturen sind dazu angetan, die engen Grenzen des Wohnens zu sprengen, nicht nur, was den circulus vitiosus der Privatisierung betrifft, sondern sie erstrecken sich auch in den Bereich der Daseinsfürsorge, der für die Kommunen immer schwieriger aufrecht zu erhalten ist. Baugruppen organisieren zum Teil bereits heute Alten- und Kinderbetreuung, Pflegedienste, aber auch Freizeit- und Kulturangebote.
Viele der Gemeinschaftsprojekte der 80er Jahre sind an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert, daran daß sie Kollektivität als Wert für sich gesetzt haben. Hier setzt der Pragmatismus der heutigen Baugruppen ein. Sowohl das Maß an persönlichem Engagement, d.h. wieviel Leistung jemand für die Gruppe erbringt, ist frei wählbar, als auch wieviel Gemeinschaftlichkeit jemand für sich realisieren will. Sollen jedoch gleichzeitig in der Gruppe Dienstleistungen angeboten werden, muß diese interne Kontingenz zu einer Professionalisierung führen, d.h. die Ergänzung von freiwilliger Hilfe mit bezahltem Service – und das ist teilweise bereits der Fall. Damit ein solches Modell tragfähig wird, bedarf es einer bestimmten Gruppengröße bzw. des Angebots dieser Leistungen in einem größeren Umfeld. Auch das ist in groben Umrissen bereits erkennbar. Solche Initiativen sind kein vorübergehendes Phänomen; sie werden sich schlicht und einfach deswegen vermehren, weil die Gesellschaft sie zu ihrem internen Funktionieren braucht. So betrachtet sind Baugrüppler die besseren Bürger.
Um einen Einblick in die Breite des Felds zu geben, das die Baugruppen abstecken, wurde eine Gruppensystematik entwickelt. Da es sich um einen Prozeß in progress handelt, kann sie nur vorläufig sein. Jede Gruppe ist mit einem für sie konstitutiven Merkmal charakterisiert. Dieses Merkmal kann auch in den anderen Gruppen auftauchen, ist dann aber nicht konstitutiv. Die Übergänge zwischen den einzelnen Gruppen sind nicht trennscharf, sondern gleitend.
A
Professionell initiierte Baugruppen weisen den geringsten Grad an Selbstorganisation auf. Es geht primär darum, die Kosten des Planens und Bauens zu reduzieren und sich in der Gruppe mehr leisten zu können, als dem Einzelnen möglich ist. Initiatoren sind häufig externe Dienstleister, die nicht nur die Bauherren zusammenführen, sondern darüber hinaus Beratung, Moderation und Projektsteuerung anbieten. Diese neue Form der Projektentwicklung wird zunehmend auch von Architekten wahrgenommen.
B
Special Interest Gruppen sind vor allem im Kontext der grünen Bewegung mit dem Anliegen von Umweltschutz, Nachhaltigkeit, ökologischem und energiesparendem Bauen entstanden. Die Wohnvorstellungen werden in diese Anliegen eingebettet. Neuerdings finden sich auch Gruppen zusammen, denen es vor allem um die Verwirklichung eines bestimmten Lebensstils in entsprechendem Ambiente geht.
C
Lebenssituationsgruppen vereinen Menschen in ähnlicher, meist schwieriger Lebenslage, die sie sozial ausgrenzt oder finanziell benachteiligt. Das trifft z.B. für alleinerziehende Mütter, Schwule/ Lesben und viele ältere Menschen zu. Die Organisation in der Gruppe erlaubt eine ökonomischere Lebensführung und bietet sozialen Rückhalt. In dem Maße, wie der Einzelne auf die Gruppe angewiesen ist, wird die Erhaltung der individuellen Autonomie bedeutsam.
D
Mehrgenerationengruppen lassen mit ihren gemischten Gemeinschaften die Großfamilie neu aufleben, allerdings ohne deren soziale Zwänge. Die Kompetenzen der Generationen werden zu einem symbiotischen Miteinander gebündelt. Es entsteht eine Art Generationenvertrag, der die gegenseitige Hilfe regelt.
E
Gemeinwesengruppen haben ihren Ursprung vielfach bereits in den 80er Jahren. Sie sind in ihren eigenen Ansprüchen entsprechend sozial und politisch motiviert und schaffen ein Umfeld, das mehr beinhaltet als die reine Wohnfunktion. Die Organisation des Zusammenlebens erfolgt nach selbstgesetzten Regeln. Gemeinwesengruppen funktionieren erst ab einer bestimmten Größe, die ein zwangloses soziales Leben erlaubt, das Kontakt wie Distanz frei wählbar macht.
[x] vgl. dazu den Artikel von G. Uhlig in dieser Ausgabe Selbstorganisiertes Wohnen
Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+
Ansprechpartner:in für diese Seite: Anh-Linh Ngo