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tec21 2006|44
Kunststoffe
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Plastik-Träume

Kunststoff wird seit den 1960er-Jahren als Werkstoff im Bauwesen eingesetzt. Als faserverstärkter Kunststoff (FVK) eroberte er sich einen beachtlichen Platz in der Architektur. Heute sind besonders hybride Systeme interessant, in denen positive Eigenschaften verschiedener Baustoffe kombiniert werden.

30. Oktober 2006 - Elke Genzel, Pamela Voigt
Das Bauen mit Kunststoffen ist ein weites Feld. Zunehmender Beliebtheit erfreuen sich heute Kunststoff-Rohre, -Fenster und -Türen sowie -Abdichtungen. In den 1960er-Jahren, als das neue Material in der Bauwelt Einzug hielt, fand besonders der glasfaserverstärkte Kunststoff (GFK) eine revolutionäre neue Bestimmung: Er wurde als tragende Konstruktion in einem Bauwerk eingesetzt. Bekannt waren die vorzüglichen Eigenschaften der faserverstärkten Kunststoffe (FVK) bereits seit Anfang der 1940er-Jahre aus dem Flugzeug‑, dem Automobil- und dem Bootsbau. Nach Ende des 2. Weltkrieges suchten sich die Hersteller neue Märkte. In den Baubereich brachten die Flugzeugingenieure ihr Wissen über die Eigenschaften und die Bemessung von Bauteilen aus FVK mit, während die Bootsbauer um die Herstellung grosser gekrümmter Bauteile wussten.
In der Architektur und im Ingenieurwesen gehörten Buckminster Fuller und Heinz Isler zu den Pionieren im Bauen mit Kunststoffen. Fuller baute 1954 auf dem Mount Washington in den USA ein Radom – eine metallfreie Kuppel mit 11 m Durchmesser aus dreieckigen GFK-Platten. Die massenweise Verbreitung solcher Radarstationen trug wesentlich zur Akzeptanz des neuen Werkstoffes bei. Isler baute 1956 für seine Betonschalen Oberlichter aus 3.5mm starkem GFK. Er war der einzige Vertreter der Ingenieure, der sich sowohl dem Schalenbau in Beton wie in FVK widmete. Im Gegensatz zu seinen Betonschalen verwendete Isler bei den GFK-Schalen vielfach mathematisch beschreibbare Formen.[1]

Leichte Tragwerke, mobile Gebäude

Faserverstärkte Kunststoffe haben viele positive Eigenschaften, die andere Werkstoffe nicht oder nur in geringem Masse aufweisen. Neben Glas sind es die einzigen Werkstoffe, mit denen lichtdurchlässige Tragelemente gebaut werden können. Möglich wird damit die Überdachung grosser Flächen, wie beispielsweise für den Eingang der Expo 1964 in Lausanne von Heinz Hossdorf oder für die Tankstelle Thun von Heinz Isler. Für diese riesige Sandwichkonstruktion von 14.50 x 22 m entwickelte der Ingenieur eine eigene Herstellungstechnik und ein Zelt für die Produktion unter Werkstattbedingungen.

FVK sind von grosser Leichtigkeit, ihr spezifisches Gewicht ist so gering, dass sie bestens geeignet sind für alle Anwendungen, die ein leichtes Tragwerk erfordern. So entstanden eine Reihe mobiler und temporärer Behausungen: das ursprünglich als Skihütte entworfene Futuro, das per Hubschrauber in unwegsames Gelände transportiert wird, die Ferienhäuser Rondo der Basler Architekten Casoni & Casoni, das Röhrenhaus des Schweizer Architekten Dutler oder die Ferienhaussiedlung Bulle Six Coques von Jean Maneval. Nicht selten stellte die Industrie Forschungsgelder zur Verfügung und konnte so die Entwicklung auf dem Bausektor anschieben. Die Firma Monsanto Chemical Comp. liess in fünfjähriger Entwicklungsarbeit, die massgeblich am MIT durchgeführt wurde, das erste Wohnhaus der Welt komplett aus FVK entwickeln (Bilder 1, 2). Dessen offenes Raumkonzept und das äussere Erscheinungsbild waren vollkommen neu.

Die Widerstandsfähigkeit der FVK gegenüber Salzen und Säuren gewährte ihnen auch den Einzug in die Welt der Ingenieurbauwerke. Silos und Hallen aus FVK haben mittlerweile ihren festen Platz in der Bauwelt gefunden und sind konkurrenzfähig zu anderen Materialien.

Prinzipielle Probleme in der Statik

Nun ist aber «ein Liter Polyester so teuer wie eine Flasche auserlesenen Rotweines», und mit dieser Feststellung von Heinz Hossdorf wird klar, dass nur dünne Tragkonstruktionen aus FVK wirtschaftlich sind. Die Steifigkeit tragender Kunststoffkonstruktionen wird dadurch zum zentralen Problem. Unter Last beulen die Schalen aus. Das wussten die Ingenieure und Architekten und entwickelten entsprechende Lösungen für solche Tragwerke. Drei geeignete Varianten zur Verbesserung der Stabilität von dünnen, flächigen Tragwerken kannten sie: 1. die Krümmung, 2. die Faltung der Fläche und 3. die Ausbildung als Sandwichkonstruktion, oder alles zusammen. Die meisten Schalen wurden so geformt, dass in ihrem Inneren nur Membrankräfte und keine Biegemomente wirken. Neben den Schalen waren es vor allem Faltwerke, die sich mit ihrer ebenen Schalungsfläche als effiziente Tragwerke durchsetzten. Als eine Mischung aus Krümmung und Faltung gelten aber auch die vielen Schirmkonstruktionen. Ein frühes Beispiel dafür sind die Schirme des amerikanischen Pavillons zur American National Exhibition im Sokolniki Park in Moskau. Eine andere Möglichkeit, dem Stabilitätsproblem zu begegnen, ist die Belastung der tragenden Kunststoffkonstruktionen allein durch Zug. Heinz Hossdorf setzte die Vorspannung für seine Tulpenfelder für die Expo Lausanne ein, damit wurde seine Tragkonstruktion niemals durch Druck belastet (Bild 7). Auch Renzo Piano, der seine ersten Lehrjahre (nach 1964) am Institut Makowskis verbrachte, wusste die Zugfestigkeit des Materials zu nutzen. Er baute zwei zugbeanspruchte Konstruktionen, 1966 die gespannte Struktur aus Stahl und GFK in Genua und 1969/70 den Pavillon für die italienische Industrie an der Expo in Osaka. Das mobile Bauen und die Teilung der Tragwerke brachten noch eine ganz andere Entwicklung mit sich. Es entstanden zusammengesetzte und «hybride» Tragwerke. Hier ist besonders der Mathematiker und Ingenieur Z. S.  Makowski zu nennen, ein Pionier und Wegbereiter von Konrad Wachsmann und Max Meringhausen auf dem Gebiet der leichten Raumtragwerke. Inspiriert durch eine Veröffentlichung von Stefan Du Chateau, der ebenfalls ein grosser Kunststoff-Schalenbauer wurde, begann Makowski 1958 am Battersea College of Technology in London Faltwerke und Raumgitter-Flächentragwerke aus Kunststoffpyramiden und Stahlstäben zu konstruieren und zu berechnen. Zwischen 1958 und 1969 entstanden unter seiner Leitung eine Reihe von Tragwerken, die zu den effizientesten, aus Kunststoffelementen herstellbaren Konstruktionen zählen (Bild 6).

Neben dem zentralen Stabilitätsproblem beschäftigte die Ingenieure vor allem die Veränderung der Eigenschaften der FVK innerhalb der Lebensdauer des Gebäudes. Unter dauernder Belastung verliert der Werkstoff erheblich an Festigkeit, das Material kriecht. Hier reichte das Wissen der Flugzeugingenieure nicht mehr aus, die Bauingenieure waren gefragt. Sie sollten einschätzen, wie viel der gemessenen Anfangsfestigkeit des FVK nach Jahren bleibt, wenn dauernde Last, aber auch UV-Strahlung oder hohe Temperaturen die innere Struktur des FVK verändert haben. Diese Abminderung konnten sie damals nur über Versuche ermitteln. Der Ingenieur Gert Hintersdorf arbeitete in Ostberlin viele Jahre an den geeigneten Bemessungsregeln für Tragwerke aus FVK. 1973 erschien sein Buch «Tragwerke aus Plasten» [2], welches bis heute ein Standardwerk ist und jedem Ingenieur das Bemessen von FVK-Tragwerken ermöglicht (siehe Kasten und Tabelle).

Das Konstruieren von Tragwerken aus FVK

Beim Bauen mit Kunststoffen kommt der Herstellungstechnik besondere Bedeutung bei. Jedes Bauteil braucht eine eigene Form. Je weniger Formen benötigt werden, umso günstiger wird die Produktion. Eine Form kann auf verschiedene Weise gewonnen werden, abgesehen von den industriellen Methoden sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Heinz Isler nahm Formen vom Sandhügel, vom Kopfkissen oder vom durchtränkten Tuch. Eine Form lässt sich aber auch aus Holz schnitzen, mit Ballons formen oder aus einem Schaumstoffblock fräsen. Letzteres ist heute die üblichste Variante.
Die Rentabilität einer Kunststoffkonstruktion wird direkt an der Herstellungstechnik gemessen. Ein Bauteil aus Kunststoffen amortisiert sich erst ab einer dreistelligen Stückzahl. Um mit Kunststoffhäusern Geld zu verdienen, müssen sie entsprechende Verkaufszahlen aufweisen. Ein Haus wie das Futuro verkauft sich aber nicht massenweise, es würde damit seinen Alleinstellungscharakter verlieren. Die Zukunft des Bauens mit FVK liegt nach heutiger Einschätzung aber sowieso nicht im Bau von (mobilen) Häusern. Denn das Rentabilitätsproblem wird auch noch vom brandschutztechnischen Problem begleitet. An dieser Thematik arbeiten derzeit Forscher, beispielsweise an der Universität Stuttgart. Weit wichtiger scheint heute die Fokussierung auf drei andere Bereiche: auf die Verwendung von Kunststoffen in der Gebäudehülle, auf die Entwicklung baugerechter Nachweis- und Berechnungsverfahren und auf den Brückenbau (siehe Artikel Seite 10).

Aktuelle Bauten aus FVK

In der Stadt sind es vor allem Überdachungen, die durch auffallende Farbgebung und Form als Blickfang und Identifikationsobjekt fungieren. Ein bekanntes Beispiel in Deutschland ist der Omnibusbahnhof in Emsdetten von OX2 Architekten, Aachen (2002), dessen GFK-Hohlträger gleichzeitig als Wetterschutz und aussteifende Konstruktionselemente der Stahlkonstruktion dienen.[5] Ein weiteres Projekt des Büros OX2, das sich noch in Bearbeitung befindet, ist die Umsteigestation «Münchner Freiheit».[6] Dieses vollständig aus einem GFK-Sandwich bestehende Tragwerk stellt eine Laubkrone dar, die sich fliessend zu den 18 Stützen verjüngt. In den gekrümmten Schalenflächen treten hauptsächlich Normalkräfte auf. Die freie Form des Daches wird mit einer computergesteuerten Fräse erstellt. Die gefräste «verlorene Schalung» (Positivform) aus harten Schäumen (z. B. High Impact Polystyrene) wird beidseitig mit faserverstärktem Kunststoff laminiert und abschliessend mit einem farbigen Gelcoat versehen. Die einzelnen Dachelemente (Transportgrösse ca. 16 u 4 m) werden vor Ort miteinander verbunden. Aus Angst vor Vandalismus werden die ursprünglich aus kohlenstoffverstärktem Kunststoff (CFK) entwickelten Stützen allerdings aus dem schlagfesteren Material Stahl realisiert.

Eine weitere Überdachung aus FVK ist der Wettbewerbsbeitrag für den Giesinger Bahnhofsvorplatz in München (bhss-architekten, 2003, Bild 13). Dieses modulare System aus GFK-Bändern ist extrem leicht und selbsttragend. Die Tragfähigkeit der Konstruktion wird über die Krümmung erreicht, deren Tragmechanismus auch in Querrichtung der Bänder durch steife Knoten-Stab-Verbindungen genutzt wird. Das Büro AFF aus Berlin entwickelte im Jahr 2006 das Grundmodul Solarmant als Überdachung zwischen zwei Werkhallen des Solarstandortes Erfurt Südost. Die dreidimensionalen Tetraeder aus Kunststoff bilden aneinander gereiht einen leichten, transluzenten und sehr formstabilen Trägerschirm für die Solarflächen. Die Solarzellen sind auf einer flexiblen Edelstahlfolie auflaminiert (Bild 16). Für Fassaden können GFK-Doppelstegplatten oder -Wellplatten [7] als gestaltbildende, tragende Bauteile aus faserverstärkten Kunststoffen eingesetzt werden. Das Ausstellungsgebäude der Stiftung Brasilea im Hafengebiet in Basel (Fischer Art, 2005) wurde mit dem Fiberglaspreis ausgezeichnet. [8] Die als Vorhangfassade verwendeten GFK-Wellplatten sind sehr robust, die lichtreflektierenden Elemente beleben gleichzeitig die Oberfläche des Gebäudes (Bild 15). Mit faserverstärkten Kunststoffen lassen sich auch mobile Kleinsträume verwirklichen. Dazu gehören zum Beispiel das Myko, das als Kino im Rostocker Zoo fungiert (2004, Bild 14), und das Hotel Everland [9] des Schweizer Künstlerpaares L/B (2002, Bild 11). Das Kleinkino wurde von Architekten und Bauingenieuren der Bauhaus-Universität als Schalenkonstruktion geplant. Die Umsetzung des Entwurfs mit dem neuartigen Material faserverstärkter Kunststoff dauerte ein halbes Jahr. Die Behausung ist komplett aus GFK gefertigt und wiegt 1200 kg.
An der Umsetzung von Brückenbauten mit FVK arbeiten Forschungsgruppen wie das Composite Construction Laboratory (CCLab) an der EPF Lausanne [10] und das Institut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) an der Universität Stuttgart. Swissfiber stellte für die Schweizer Expo.02 eine Fussgängerbrücke zur «Wolke» her (Bild 12), ein Entwurf von Kurath & Partner AG und der Zürcher Hochschule Winterthur [11]. Die Brücke war 5. 80 m breit und spannte über 17 m. Der Biegeträger, ein 70 cm u 40 cm grosser elliptischer Hohlkörper, bestand aus 1 m langen Teilstücken, die mit Querschotten verbunden und durch Vorspannung zusammengezogen waren. Die gekrümmten transluzenten Geländer und die Bodenplatten waren ebenfalls aus FVK konstruiert.
Die Geschichte der Kunststoffe im Bauwesen zeigt, dass Ingenieure und Architekten anhand von Versuchen Wege fanden, das neuartige Material für Gebäude zu verwenden. Es wird aber deutlich, dass der Einsatz von Kunststoffen – damals wie heute – eine Frage der Wirtschaftlichkeit ist. Für Gebäudehüllen, Überdachungen und in Kombination mit anderen Baustoffen mögen Kunststoffe bereits eine Berechtigung gefunden haben. Der Einsatz des Materials für ganze Gebäude hingegen ist hinsichtlich Planungs- und Fabrikationsaufwand und Kosten – in Zeiten steigender Erdölpreise – heute nicht wirtschaftlich. Spannend dürfte in den nächsten Jahren sein, die Entwicklung im Bereich der hybriden Konstruktionen, zum Beispiel im Brücken- und Fahrbahnbau, zu beobachten.


Zusatz:
Empfehlungen für die Bemessung von FVK-Profilen

Die 1972 entwickelten Bemessungsregeln von Hintersdorf[2] unterscheiden sich im Wesentlichen nicht von denen seiner Zeitgenossen. Er empfiehlt die Bemessung über zulässige Spannungen (siehe Tabelle S. 6). Heute kann man zum Beispiel nach den Empfehlungen des deutschen Bau-Überwachungsvereins tragende Bauteile aus FVK[3] bemessen oder sich an den Grundlagen zur Bemessung von Kunststoffteilen[4] von Urs Meier der ETH Zürich orientieren. Das Prinzip der Abminderungsbeiwerte ist weiterhin beibehalten. Auch das Bemessungskonzept an sich ist heute vielfältiger und lässt je nach Anforderungen an ein Tragwerk aus Kunststoff mehr Spielraum. Über diese Empfehlungen hinaus fehlen aber nach wie vor gültige und baugerechte Nachweis- und Berechnungsverfahren.
Literatur / Anmerkungen:
[1] tec 21 22 / 2006, S. 14 ff.
[2] Gert Hintersdorf: Tragwerke aus Plasten. Berlin (Ost): Verlag für Bauwesen, 1972, sowie Stuttgart: DVA, 1973.
[3] BÜV-Empfehlungen für tragende Kunststoffbauteile im Bauwesen (TKB), Fassung 2002.
[4] Urs Meier: Grundlagen zum Bemessen von Kunststoffbauteilen. ETH-Vorlesung 39 – 605, Ausgabe SS 1995.
[5] OX2: Omnibusbahnhof in Emsdetten. In: Detail 12 /02, S. 1566 –1569.
[6] FOMEKK: Tagungsband des 2. ForschungsForums: Faserverstärkter Kunststoff von der Entwicklung zur An-wendung. Weimar 2004.
[7] Beilage zu Hochparterre 4/04; Detail 12 / 2002
[8] www.swissfiber.com
[9] www.everland.ch
[10] Thomas Keller: Faserverbundmaterialien im Brückenbau. In: tec 21 24/2001, S. 7–14.
[11] Zürcher Hochschule Winterthur: Tagungsband – Tragkonstruktionen aus Faserverbundkunststoffen im Bauwesen. Winterthur, 21.  August 2002.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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