Zeitschrift
dérive 19
Wiederaufbau des Wiederaufbaus
Wiederaufbau des Wiederaufbaus?
Ein großer Rückbau, Umbau oder Abriss? Oder: Was bleibt von gesunden Wohnungen? Glückliche Menschen?
3. Juni 2005 - Erik Meinharter
Wohnquartiere wie aus einem Guss. Viele preiswerte Wohnungen in kurzer Zeit aus dem Boden gestampft. Zur schnellen Wohnungsproduktion wurden solche großformatigen, rein auf Wohnnutzung ausgelegten Quartiere bis in die späten 1970er Jahre als praktikable Lösung angesehen. In den letzten Jahren entstand jedoch eine neue große Bauaufgabe: Die Großsiedlungsrenovierung begann, besonders in den Niederlanden, den Neubau zu verdrängen.
Wie alles begann.
Doch wie hat alles begonnen? Die ersten Ansätze der großen Quartiere wurden Ende der fünfziger Jahre realisiert, als die zögerliche Bauentwicklung der Nachkriegsjahre im ökonomischen Aufschwung ihren Katalysator gefunden hatte. Vorausgehend hatte in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Modernisierungsschub an Wertesystemen und Lebenskonzepten stattgefunden. Die Ansätze eines Ernst May, als Vorreiter des Typus großformatigen sozialen Wohnbaus in der Zwischenkriegszeit und Autor des Artikels „Die Wohnung für das Existenzminimum“ für den zweiten CIAM-Kongress, wurden zum Vorbild weiterer groß angelegter Siedlungen nach 1945. Die Überlegungen der räumlichen Manifestation eines sozialen Gefüges, welche ihre erste Realisierung im städtischen Waisenhaus Aldo Ernest van Eycks 1960 gefunden hatten, wurden auf Siedlungs- und Wohnformen übertragen. Am Anfang der sechziger Jahre fanden die Konzepte eines baulich-räumlichen Verfestigens einer sozialen Utopie ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihre maximale Verzerrung. Es begann die Zeit der „triumphierenden Ökonomie“ (Heinrich Klotz). Die gesellschaftlichen und sozialen, aber auch zum Teil ideologischen Vorstellungen eines gemeinschaftlichen Lebens wurden „in Beton gegossen“. Die Zeit der „Unterbringungsarchitektur“ brach, begleitet durch die Tendenz zur Standardisierung im Wohnbau, an. Somit wurde sie zur ökonomisch-räumlichen Interpretation einer sozialen Grundidee.
Mehrere Faktoren führten zu Lage und Dimension der Neubausiedlungen am Rande der Stadt. Aus der Idee der Siedlungserweiterungen in Trabantenform mit abgeschlossener Autonomie z. B. eines Bruno Taut wurde im Zuge der Verdichtung aus Verwertungsinteresse, der leichten und günstigen Verfügbarkeit der Peripherie sowie der Idee der verkehrsgerechten Stadt die Trabantenstadt. Es entstanden Siedlungen mit großer Dichte am Rande der Stadt, die selbst jedoch mit nicht finanzierbaren Schäden an ihrer Zentrumsstruktur zu kämpfen hatte. Gleichzeitig aus der Idee der Verschränkung von Stadt und Natur geboren, waren diese Siedlungen am Stadtrand in wichtigen Funktionen auf diese Zentren angewiesen. Eine Anbindung an den öffentlichen Verkehr sowie der Bau wichtiger Infrastrukturmaßnahmen, zumeist zeitnah geplant, fanden erst Jahrzehnte nach Vollendung der Siedlungen statt.
Die ursprüngliche Intention der neuen „sozialen Bauweise“ war es jedoch, sich stark von den auf kapitalistische Verwertung ausgerichteten Bauformen der Gründerjahre abzugrenzen – einem neuen Begriff von Menschenwürde und sozialer Gleichberechtigung eine baulich adäquate Form zu geben. Hier entstand bereits das dann im Weiteren zu problematischen unflexiblen Wohnformen führende grundlegende Missverständnis: der Zweck, mittels baulicher Umwelt ein ideales Zusammenleben der Menschen anzubahnen, eine „soziale Harmonie“ als städtebauliches Leitbild zu manifestieren. Christine Hannemann bezeichnet das in ihrem Buch „Die Platte“ bezugnehmend auf die DDR das „Gleichheitspostulat“. Dadurch zeigt sich bereits die Problematik der „gebauten Gesellschaftsform“, die dann mit einer realen Gesellschaft und deren Veränderungen in Konflikt gerät: Der Städtebau als Mittel der Politik ist eine autoritäre Form der Gesellschaftsmanipulation.(1) Doch was bleibt von dieser, wenn die Ansprüche an die Wohnformen sich ändern?
Gibt es europäische Unterschiede in den Entwicklungen?
In den Niederlanden ist die sogenannte Erneuerung (die vom Abriss bis zu tatsächlicher Erneuerung der bestehenden Wohnviertel reichen kann) die größte Bauaufgabe der letzten Jahre. Sie hat den Neubau quantitativ von der ersten Position verdrängt. Es stellt sich die Frage: Gibt es eine Erneuerung ohne Verniedlichung? Die meistgewählte und meistgewünschte Wohnform der Niederlande ist das Reihenhaus.
Die dichten und mitunter sehr kompakten Großsiedlungsstrukturen erscheinen wie Inseln in einem Meer aus individuellen oder geförderten (vgl. VINEX (2)) Reihenhäusern mit Vorgärten und Gärten. Die Wohnform der Geschosswohnungsbaus ist in den Niederlanden eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch aufgrund des schlechten Unterhalts und der hohen MieterInnenfluktuation haben viele dieser Siedlungen ein schlechtes Image. Doch Image ist nicht gleich reale Situation: Die gesellschaftspolitischen Probleme werden auf Bauformen und Wohnformen projiziert und so einer grundsätzlichen Kritik enthoben. Das Bijlmer – aufgrund seiner hauptsächlich aus Surinam stammenden BewohnerInnen bezeichnenderweise auch „Paramaribo aan de Amstel“ genannt – ist eine Wohnsiedlung, an der sich bereits viele ArchitektInnen versucht haben. Sie schwankt permanent zwischen Abriss und Neudefinition. Derzeit hat der Abriss bei gleichzeitigem Ersatz durch verdichtete flache Bauformen die Oberhand gewonnen. Mit ihrer Situierung nahe dem Aufwertungsgebiet Amsterdam Zuid liegt die Siedlung noch dazu in einem Konfliktfeld der Stadtentwicklung Amsterdams. In diesem Zusammenhang sind Aktionen zur Neudefinition wie jene der Stadtentwicklung Amsterdam Zuid Oost (3) durchaus kritisch zu sehen. Für welche BewohnerInnen wird neu definiert – für wen wird die Situation verbessert?
Mit dem Projekt RESTATE (4) wird diesem und einigen weiteren Projekten eine Untersuchung gewidmet, die versucht zu erforschen, inwieweit diese Prozesse lokal und inwieweit sie globalen Tendenzen folgen. In einer vergleichenden Studie wird an konkreten Orten verglichen, welche Faktoren am stärksten eine Abwertung nach sich ziehen. Ob dieses Forschungsprojekt die Zerreißprobe zwischen konkret dokumentierbaren Faktoren wie der Vernachlässigung im Unterhalt, Wechsel in den Förderungsbedingungen des sozialen Wohnens, wirtschaftlichem Status der Wohnbaugenossenschaften (Privatisierungen) und lokalen wie globalen Wirtschaftsprozessen auf der einen Seite und gesellschaftlichen Faktoren wie Image und Präferenzen in der Wohnungswahl als „weiche“ Faktoren auf der anderen Seite auflösen kann, wird sich Ende 2005 zeigen.
Schrumpfung und Großsiedlung vertragen sich nicht.
In Deutschland sind die ehemaligen Plattenbausiedlungen im Osten (und zum Teil auch im Westen (5)) zum Umbau- oder Abrissziel geworden, das Aufmerksamkeit sogar bis hin zu Bauherrenpreisen wie zum Beispiel in Leinefelde (6) erreicht. Die in den Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderjahrzehnten praktizierte Form des großformatigen ökonomischen Bauens ist in die Jahre gekommen. Wohnhäuser aus industrieller Vorfertigung und mittels Massenprodukten, ob „Platte“ oder nicht, haben nicht nur bauliche, sondern auch Infrastrukturelle Mängel entwickelt. In Deutschland wird dieser Alterungsprozess jedoch durch die ökonomischen und demographischen Randbedingungen beschleunigt und mit hervorgerufen. Die fast überfallsartige Privatisierung des Eigentums in den neunziger Jahren nach der Wende hat eine Entmischung der einst heterogen bewohnten Siedlungsstrukturen nach sich gezogen. Die wohlhabenderen, jüngeren BewohnerInnen verließen die Quartiere – teils aus beruflichen Gründen nach dem Westen, teils aus wirtschaftlichen Gründen in das neu erworbene Eigenheim. Die einst durchmischten Quartiere wurden zu Siedlungen der Marginalisierten.
Dieser Prozess steht in einem gesamtökonomischen Zusammenhang mit der Entwicklung im Osten der Bundesrepublik. Die Siedlungen und ihre Thematisierung als „Problemfall“, dessen Ursache durchaus mit der Entschuldungsstrategie der Wohnbaugesellschaften zusammenhängt, hat also einen stark volkswirtschaftlich geprägten Ursprung. Der sogenannte Prozess der Schrumpfung (7) ist ein gesellschaftlich-ökonomischer Prozess der „Wende“, mit dem Regionen und damit auch große Siedlungsgebiete im Osten in eine Stromschnelle der Ausdünnung und des Verschwindens gezogen wurden. Viele Projekte begleiten diesen Prozess. Sie versuchen durch Differenzierung („Kolorado“ / Halle- Neustadt), Ausdünnung und Aufwertung (Leinefelde) oder künstlerische Initialzündungen (Hotel Halle-Neustadt), eine Neudefinition der räumlichen Konfigurationen zu entwickeln. Doch sind diese räumlichen Strategien nur eine Zwischenstation auf dem Weg des unaufhaltsamen Umbauprozesses, der durch die demographischen (Überalterung) und mikroökonomischen (Monofunktionalität, Investitionsarmut) sowie gleich starken Globalisierungstendenzen forciert und vorangetrieben wird.
Man kann diese Projekte auch als „Tropfen auf den heißen Stein“ bezeichnen, wenn man wie Christoph Hein folgert: „Dritte Welt ist überall“. Denn diese Entwicklungen beschreiben eine Richtung: Die Wandlung der so genannten ersten Welt in eine nicht mehr an den Produktionsprozessen beteiligte Gesellschaft, welche sich von einer Gesellschaft der Möglichkeiten in Richtung einer Gesellschaft der Notwendigkeiten entwickelt hat.. Nicht unerheblichen Anteil daran hat der Fluss des internationalen Kapitals und die Dynamik, die Produktionsprozesse immer in die Länder der günstigsten Bedingungen zu verschieben. Es ist möglich, diesen Schrumpfungsprozess als einen positiven aufzufassen; jedoch stellt sich immer die Frage, für wen dieser Prozess als positiv anzusehen ist.
Hieraus lässt sich jedoch ablesen, dass nicht generell von einer Problematik der Großsiedlungen gesprochen werden kann. Vor allem nicht in einem rein städtebaulichen oder architektonischen Kontext.
Denn welcher Faktor macht den Umbau oder – wie zumeist – Abriss unumgänglich? Die städtebaulichen Konfigurationen, der jahrelange schlechte Unterhalt der Gebäude und der Freiräume oder das soziale Gefüge, das zu ändern sich die Erneuerung zum Ziel erkoren hat? Oder sind es am Ende nicht doch die mikro- und makroökonomischen Faktoren, die auf diese Entscheidung den größten Einfluss ausüben? Aufmerksamkeit ist gefragt, wenn Wolfgang Kil in seinem Buch „Luxus der Leere“ warnt: „Dass hier einige Entwicklungspfade einer spätkapitalistischen Gesellschaft auf härtestem Globalisierungskurs geradewegs in die Krise steuern, sollte zur Wachsamkeit in den noch nicht betroffenen Regionen anstiften.“
All diese Diskussionen und Auseinandersetzungen stecken in Österreich noch in den Kinderschuhen, doch es wird sich nicht vermeiden lassen, den wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen sowie demographischen Tendenzen auch hierzulande Rechnung zu tragen. Es wird sich auf die zentrale Fragestellung fokussieren: Wie wird mit dieser Aufgabe im städtischen und gesellschaftlichen Kontext umgegangen? Dafür ist eine fundamentale an den Komplexen Prozessen arbeitende Forschung notwendig, damit diese Siedlungsformen nicht immer nur in Ausnahmesituationen medial beäugt, karikiert oder als der „wilde Norden“ hie und da medienwirksam umschrieben werden.
Fußnoten
1 selbst die Profession der ArchitektInnen muss sich selbst immer wieder die Problematik des sozialutopischen Bauens vor Augen halten, wie etwa Rem Koolhaas in seinem Artikel „Nostalgiker der Moderne“ die Defizite in der Diskussion um das Berliner Stadtschloss beschreibt: „Das dritte Defizit liegt in der Selbstüberschätzung der Architekten. Vor allem in den sechziger Jahren behaupteten sie, durch befreiende Architektur die Gesellschaft befreien zu können. Damit verwickelten sie sich in einen Widerspruch, denn was sollte das sein: eine erzwungene Befreiung? (...) Weil wir den ideologischen Aspekt dieser Diskussion ignorieren, verfallen wir der nostalgischen Annahme, dass befreiende Architektur möglich sei.“ KOOLHAAS Rem in Die Zeit Nr.12, 17. 3. 2005
2 VINEX – Locatie: ausgewiesene Erweiterungsgebiete in den Niederlanden folgend der Vierden Nota Ruimtelijke Ontwikkeling Extra des Ministeriums VROM von 1993 (vgl. dazu auch die Publikation über das Wohnen in diesen Quartieren: „Villa Vinex – Bart Sorgedrager fotografeert Leidsche Rijn“ mit Texten von Tracy Metz und Irene Cieraad, Uitgeverij De Verbeelding, Amsterdam 2001
3 eines der lange lancierten Projekte zur Auf- und Umwertung des Umfeldes von Amsterdam Süd-Ost findet sich auf: www.straatvan1000culuturen.nl
4 RESTATE Projekt „Restructuring large-scale Housing Estates in European Cities: Good Practices and New Visions for Sustainable Neigbourhoods and Cities“ Key Action 4 Programme „City of Tomorrow and Cultural Heritage“ in the „Energy, Enviroment and Sustainable Developement“ Programme / www.restate.org
5 Im Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde z. B. 2002 ein spezifischer „Runderlass zur Förderung von baulichen Maßnahmen in hochverdichteten Sozialwohnungsbeständen der 60er und 70er Jahre in Verbindung mit integrierten Bewirtschaftungskonzepten“ erlassen.
(IV A 3-322-521/02)
6 Stefan Forster Architekten haben mit ihrem Konzept des Teilabbaues (Reduktion der Zeilen z. B. um zwei Geschosse) eine sanftere und durchaus sehr stilsichere Form des Umbaus gefunden. Vgl. http://www.stefan-forster-architekten.de/
7 Auch auf der Plattform www.shrinking-cities.org stellen die Diskussionen über den Umgang mit den großen Siedlungsstrukturen einen großen Anteil.
LITERATUR:
DURTH Werner in „Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre“ – Ergebnisse Fachtagung, Köllen Druck + Verlags GmbH, Hannover 1990, Schriftenreihe des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 41, S. 24ff
DURTH Werner, GUTSCHOW Niels, „Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940-1950“, Braunschweig / Wiesbaden 1988
KLOTZ Heinrich, „Architektur und Städtebau. Die Ökonomie triumphiert“ In: HOFFMANN / KLOTZ (Hrsg.) „Die 60er. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Econ Verlag, Düsseldorf 1987
RESTATE www.restate.org
TELLINGA Jaqueline, „De groote Verbouwing – Verandering van naoorlogse woonwijken“, NAI – Nederlands Architectuur Institute, 010 Publishers, Rotterdam 2004
HANNEMANN Christine, „Die Platte – Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR“, Verlag Schelzky & Jeep, Berlin 2000
KIL Wolfgang, „Luxus der Leere – Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt“ Eine Streitschrift, Müller & Busmann Verlag, Wuppertal 2004
THOMSEN F. André, „Sloop en Sloopmotieven – tussenreportage“ enquete sociale huursector, TU-Delft Faculteit Bouwkunde – Real Estate & Housing, Delft 2004
FALTER 5/03 vom 29. 1. 2003 „Im wilden Norden“, Julia ORTNER, „Grossfelder im TV“ Christopher WURMDOBLER
HEIN Christoph, „Dritte Welt überall – Ostdeutschland als Avantgarde der Globalisierung: Wo das Kapital flieht, kommt der Nationalismus zurück“ in Die Zeit Nr. 41, 30. 9. 2004
Wie alles begann.
Doch wie hat alles begonnen? Die ersten Ansätze der großen Quartiere wurden Ende der fünfziger Jahre realisiert, als die zögerliche Bauentwicklung der Nachkriegsjahre im ökonomischen Aufschwung ihren Katalysator gefunden hatte. Vorausgehend hatte in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein Modernisierungsschub an Wertesystemen und Lebenskonzepten stattgefunden. Die Ansätze eines Ernst May, als Vorreiter des Typus großformatigen sozialen Wohnbaus in der Zwischenkriegszeit und Autor des Artikels „Die Wohnung für das Existenzminimum“ für den zweiten CIAM-Kongress, wurden zum Vorbild weiterer groß angelegter Siedlungen nach 1945. Die Überlegungen der räumlichen Manifestation eines sozialen Gefüges, welche ihre erste Realisierung im städtischen Waisenhaus Aldo Ernest van Eycks 1960 gefunden hatten, wurden auf Siedlungs- und Wohnformen übertragen. Am Anfang der sechziger Jahre fanden die Konzepte eines baulich-räumlichen Verfestigens einer sozialen Utopie ihren Höhepunkt und gleichzeitig ihre maximale Verzerrung. Es begann die Zeit der „triumphierenden Ökonomie“ (Heinrich Klotz). Die gesellschaftlichen und sozialen, aber auch zum Teil ideologischen Vorstellungen eines gemeinschaftlichen Lebens wurden „in Beton gegossen“. Die Zeit der „Unterbringungsarchitektur“ brach, begleitet durch die Tendenz zur Standardisierung im Wohnbau, an. Somit wurde sie zur ökonomisch-räumlichen Interpretation einer sozialen Grundidee.
Mehrere Faktoren führten zu Lage und Dimension der Neubausiedlungen am Rande der Stadt. Aus der Idee der Siedlungserweiterungen in Trabantenform mit abgeschlossener Autonomie z. B. eines Bruno Taut wurde im Zuge der Verdichtung aus Verwertungsinteresse, der leichten und günstigen Verfügbarkeit der Peripherie sowie der Idee der verkehrsgerechten Stadt die Trabantenstadt. Es entstanden Siedlungen mit großer Dichte am Rande der Stadt, die selbst jedoch mit nicht finanzierbaren Schäden an ihrer Zentrumsstruktur zu kämpfen hatte. Gleichzeitig aus der Idee der Verschränkung von Stadt und Natur geboren, waren diese Siedlungen am Stadtrand in wichtigen Funktionen auf diese Zentren angewiesen. Eine Anbindung an den öffentlichen Verkehr sowie der Bau wichtiger Infrastrukturmaßnahmen, zumeist zeitnah geplant, fanden erst Jahrzehnte nach Vollendung der Siedlungen statt.
Die ursprüngliche Intention der neuen „sozialen Bauweise“ war es jedoch, sich stark von den auf kapitalistische Verwertung ausgerichteten Bauformen der Gründerjahre abzugrenzen – einem neuen Begriff von Menschenwürde und sozialer Gleichberechtigung eine baulich adäquate Form zu geben. Hier entstand bereits das dann im Weiteren zu problematischen unflexiblen Wohnformen führende grundlegende Missverständnis: der Zweck, mittels baulicher Umwelt ein ideales Zusammenleben der Menschen anzubahnen, eine „soziale Harmonie“ als städtebauliches Leitbild zu manifestieren. Christine Hannemann bezeichnet das in ihrem Buch „Die Platte“ bezugnehmend auf die DDR das „Gleichheitspostulat“. Dadurch zeigt sich bereits die Problematik der „gebauten Gesellschaftsform“, die dann mit einer realen Gesellschaft und deren Veränderungen in Konflikt gerät: Der Städtebau als Mittel der Politik ist eine autoritäre Form der Gesellschaftsmanipulation.(1) Doch was bleibt von dieser, wenn die Ansprüche an die Wohnformen sich ändern?
Gibt es europäische Unterschiede in den Entwicklungen?
In den Niederlanden ist die sogenannte Erneuerung (die vom Abriss bis zu tatsächlicher Erneuerung der bestehenden Wohnviertel reichen kann) die größte Bauaufgabe der letzten Jahre. Sie hat den Neubau quantitativ von der ersten Position verdrängt. Es stellt sich die Frage: Gibt es eine Erneuerung ohne Verniedlichung? Die meistgewählte und meistgewünschte Wohnform der Niederlande ist das Reihenhaus.
Die dichten und mitunter sehr kompakten Großsiedlungsstrukturen erscheinen wie Inseln in einem Meer aus individuellen oder geförderten (vgl. VINEX (2)) Reihenhäusern mit Vorgärten und Gärten. Die Wohnform der Geschosswohnungsbaus ist in den Niederlanden eine Ausnahmeerscheinung. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch aufgrund des schlechten Unterhalts und der hohen MieterInnenfluktuation haben viele dieser Siedlungen ein schlechtes Image. Doch Image ist nicht gleich reale Situation: Die gesellschaftspolitischen Probleme werden auf Bauformen und Wohnformen projiziert und so einer grundsätzlichen Kritik enthoben. Das Bijlmer – aufgrund seiner hauptsächlich aus Surinam stammenden BewohnerInnen bezeichnenderweise auch „Paramaribo aan de Amstel“ genannt – ist eine Wohnsiedlung, an der sich bereits viele ArchitektInnen versucht haben. Sie schwankt permanent zwischen Abriss und Neudefinition. Derzeit hat der Abriss bei gleichzeitigem Ersatz durch verdichtete flache Bauformen die Oberhand gewonnen. Mit ihrer Situierung nahe dem Aufwertungsgebiet Amsterdam Zuid liegt die Siedlung noch dazu in einem Konfliktfeld der Stadtentwicklung Amsterdams. In diesem Zusammenhang sind Aktionen zur Neudefinition wie jene der Stadtentwicklung Amsterdam Zuid Oost (3) durchaus kritisch zu sehen. Für welche BewohnerInnen wird neu definiert – für wen wird die Situation verbessert?
Mit dem Projekt RESTATE (4) wird diesem und einigen weiteren Projekten eine Untersuchung gewidmet, die versucht zu erforschen, inwieweit diese Prozesse lokal und inwieweit sie globalen Tendenzen folgen. In einer vergleichenden Studie wird an konkreten Orten verglichen, welche Faktoren am stärksten eine Abwertung nach sich ziehen. Ob dieses Forschungsprojekt die Zerreißprobe zwischen konkret dokumentierbaren Faktoren wie der Vernachlässigung im Unterhalt, Wechsel in den Förderungsbedingungen des sozialen Wohnens, wirtschaftlichem Status der Wohnbaugenossenschaften (Privatisierungen) und lokalen wie globalen Wirtschaftsprozessen auf der einen Seite und gesellschaftlichen Faktoren wie Image und Präferenzen in der Wohnungswahl als „weiche“ Faktoren auf der anderen Seite auflösen kann, wird sich Ende 2005 zeigen.
Schrumpfung und Großsiedlung vertragen sich nicht.
In Deutschland sind die ehemaligen Plattenbausiedlungen im Osten (und zum Teil auch im Westen (5)) zum Umbau- oder Abrissziel geworden, das Aufmerksamkeit sogar bis hin zu Bauherrenpreisen wie zum Beispiel in Leinefelde (6) erreicht. Die in den Wiederaufbau- und Wirtschaftswunderjahrzehnten praktizierte Form des großformatigen ökonomischen Bauens ist in die Jahre gekommen. Wohnhäuser aus industrieller Vorfertigung und mittels Massenprodukten, ob „Platte“ oder nicht, haben nicht nur bauliche, sondern auch Infrastrukturelle Mängel entwickelt. In Deutschland wird dieser Alterungsprozess jedoch durch die ökonomischen und demographischen Randbedingungen beschleunigt und mit hervorgerufen. Die fast überfallsartige Privatisierung des Eigentums in den neunziger Jahren nach der Wende hat eine Entmischung der einst heterogen bewohnten Siedlungsstrukturen nach sich gezogen. Die wohlhabenderen, jüngeren BewohnerInnen verließen die Quartiere – teils aus beruflichen Gründen nach dem Westen, teils aus wirtschaftlichen Gründen in das neu erworbene Eigenheim. Die einst durchmischten Quartiere wurden zu Siedlungen der Marginalisierten.
Dieser Prozess steht in einem gesamtökonomischen Zusammenhang mit der Entwicklung im Osten der Bundesrepublik. Die Siedlungen und ihre Thematisierung als „Problemfall“, dessen Ursache durchaus mit der Entschuldungsstrategie der Wohnbaugesellschaften zusammenhängt, hat also einen stark volkswirtschaftlich geprägten Ursprung. Der sogenannte Prozess der Schrumpfung (7) ist ein gesellschaftlich-ökonomischer Prozess der „Wende“, mit dem Regionen und damit auch große Siedlungsgebiete im Osten in eine Stromschnelle der Ausdünnung und des Verschwindens gezogen wurden. Viele Projekte begleiten diesen Prozess. Sie versuchen durch Differenzierung („Kolorado“ / Halle- Neustadt), Ausdünnung und Aufwertung (Leinefelde) oder künstlerische Initialzündungen (Hotel Halle-Neustadt), eine Neudefinition der räumlichen Konfigurationen zu entwickeln. Doch sind diese räumlichen Strategien nur eine Zwischenstation auf dem Weg des unaufhaltsamen Umbauprozesses, der durch die demographischen (Überalterung) und mikroökonomischen (Monofunktionalität, Investitionsarmut) sowie gleich starken Globalisierungstendenzen forciert und vorangetrieben wird.
Man kann diese Projekte auch als „Tropfen auf den heißen Stein“ bezeichnen, wenn man wie Christoph Hein folgert: „Dritte Welt ist überall“. Denn diese Entwicklungen beschreiben eine Richtung: Die Wandlung der so genannten ersten Welt in eine nicht mehr an den Produktionsprozessen beteiligte Gesellschaft, welche sich von einer Gesellschaft der Möglichkeiten in Richtung einer Gesellschaft der Notwendigkeiten entwickelt hat.. Nicht unerheblichen Anteil daran hat der Fluss des internationalen Kapitals und die Dynamik, die Produktionsprozesse immer in die Länder der günstigsten Bedingungen zu verschieben. Es ist möglich, diesen Schrumpfungsprozess als einen positiven aufzufassen; jedoch stellt sich immer die Frage, für wen dieser Prozess als positiv anzusehen ist.
Hieraus lässt sich jedoch ablesen, dass nicht generell von einer Problematik der Großsiedlungen gesprochen werden kann. Vor allem nicht in einem rein städtebaulichen oder architektonischen Kontext.
Denn welcher Faktor macht den Umbau oder – wie zumeist – Abriss unumgänglich? Die städtebaulichen Konfigurationen, der jahrelange schlechte Unterhalt der Gebäude und der Freiräume oder das soziale Gefüge, das zu ändern sich die Erneuerung zum Ziel erkoren hat? Oder sind es am Ende nicht doch die mikro- und makroökonomischen Faktoren, die auf diese Entscheidung den größten Einfluss ausüben? Aufmerksamkeit ist gefragt, wenn Wolfgang Kil in seinem Buch „Luxus der Leere“ warnt: „Dass hier einige Entwicklungspfade einer spätkapitalistischen Gesellschaft auf härtestem Globalisierungskurs geradewegs in die Krise steuern, sollte zur Wachsamkeit in den noch nicht betroffenen Regionen anstiften.“
All diese Diskussionen und Auseinandersetzungen stecken in Österreich noch in den Kinderschuhen, doch es wird sich nicht vermeiden lassen, den wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen sowie demographischen Tendenzen auch hierzulande Rechnung zu tragen. Es wird sich auf die zentrale Fragestellung fokussieren: Wie wird mit dieser Aufgabe im städtischen und gesellschaftlichen Kontext umgegangen? Dafür ist eine fundamentale an den Komplexen Prozessen arbeitende Forschung notwendig, damit diese Siedlungsformen nicht immer nur in Ausnahmesituationen medial beäugt, karikiert oder als der „wilde Norden“ hie und da medienwirksam umschrieben werden.
Fußnoten
1 selbst die Profession der ArchitektInnen muss sich selbst immer wieder die Problematik des sozialutopischen Bauens vor Augen halten, wie etwa Rem Koolhaas in seinem Artikel „Nostalgiker der Moderne“ die Defizite in der Diskussion um das Berliner Stadtschloss beschreibt: „Das dritte Defizit liegt in der Selbstüberschätzung der Architekten. Vor allem in den sechziger Jahren behaupteten sie, durch befreiende Architektur die Gesellschaft befreien zu können. Damit verwickelten sie sich in einen Widerspruch, denn was sollte das sein: eine erzwungene Befreiung? (...) Weil wir den ideologischen Aspekt dieser Diskussion ignorieren, verfallen wir der nostalgischen Annahme, dass befreiende Architektur möglich sei.“ KOOLHAAS Rem in Die Zeit Nr.12, 17. 3. 2005
2 VINEX – Locatie: ausgewiesene Erweiterungsgebiete in den Niederlanden folgend der Vierden Nota Ruimtelijke Ontwikkeling Extra des Ministeriums VROM von 1993 (vgl. dazu auch die Publikation über das Wohnen in diesen Quartieren: „Villa Vinex – Bart Sorgedrager fotografeert Leidsche Rijn“ mit Texten von Tracy Metz und Irene Cieraad, Uitgeverij De Verbeelding, Amsterdam 2001
3 eines der lange lancierten Projekte zur Auf- und Umwertung des Umfeldes von Amsterdam Süd-Ost findet sich auf: www.straatvan1000culuturen.nl
4 RESTATE Projekt „Restructuring large-scale Housing Estates in European Cities: Good Practices and New Visions for Sustainable Neigbourhoods and Cities“ Key Action 4 Programme „City of Tomorrow and Cultural Heritage“ in the „Energy, Enviroment and Sustainable Developement“ Programme / www.restate.org
5 Im Bundesland Nordrhein-Westfalen wurde z. B. 2002 ein spezifischer „Runderlass zur Förderung von baulichen Maßnahmen in hochverdichteten Sozialwohnungsbeständen der 60er und 70er Jahre in Verbindung mit integrierten Bewirtschaftungskonzepten“ erlassen.
(IV A 3-322-521/02)
6 Stefan Forster Architekten haben mit ihrem Konzept des Teilabbaues (Reduktion der Zeilen z. B. um zwei Geschosse) eine sanftere und durchaus sehr stilsichere Form des Umbaus gefunden. Vgl. http://www.stefan-forster-architekten.de/
7 Auch auf der Plattform www.shrinking-cities.org stellen die Diskussionen über den Umgang mit den großen Siedlungsstrukturen einen großen Anteil.
LITERATUR:
DURTH Werner in „Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre“ – Ergebnisse Fachtagung, Köllen Druck + Verlags GmbH, Hannover 1990, Schriftenreihe des deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, Band 41, S. 24ff
DURTH Werner, GUTSCHOW Niels, „Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940-1950“, Braunschweig / Wiesbaden 1988
KLOTZ Heinrich, „Architektur und Städtebau. Die Ökonomie triumphiert“ In: HOFFMANN / KLOTZ (Hrsg.) „Die 60er. Die Kultur unseres Jahrhunderts. Econ Verlag, Düsseldorf 1987
RESTATE www.restate.org
TELLINGA Jaqueline, „De groote Verbouwing – Verandering van naoorlogse woonwijken“, NAI – Nederlands Architectuur Institute, 010 Publishers, Rotterdam 2004
HANNEMANN Christine, „Die Platte – Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR“, Verlag Schelzky & Jeep, Berlin 2000
KIL Wolfgang, „Luxus der Leere – Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt“ Eine Streitschrift, Müller & Busmann Verlag, Wuppertal 2004
THOMSEN F. André, „Sloop en Sloopmotieven – tussenreportage“ enquete sociale huursector, TU-Delft Faculteit Bouwkunde – Real Estate & Housing, Delft 2004
FALTER 5/03 vom 29. 1. 2003 „Im wilden Norden“, Julia ORTNER, „Grossfelder im TV“ Christopher WURMDOBLER
HEIN Christoph, „Dritte Welt überall – Ostdeutschland als Avantgarde der Globalisierung: Wo das Kapital flieht, kommt der Nationalismus zurück“ in Die Zeit Nr. 41, 30. 9. 2004
Für den Beitrag verantwortlich: dérive
Ansprechpartner:in für diese Seite: Christoph Laimer