Bauwerk

Florasdorf am Anger
Freimüller Söllinger Architektur, StudioVlayStreeruwitz - Wien (A) - 2018
Florasdorf am Anger, Foto: Bruno Klomfar
Florasdorf am Anger, Foto: Bruno Klomfar
Florasdorf am Anger, Foto: Bruno Klomfar

Slogan und Substanz

Fünf frei stehende „Stadtvillen“, die Twist zu tanzen scheinen. Und ein lang gestreckter Baukörper, dessen Fassade als Skulptur beeindruckt, statt Wohnlichkeit freilich derzeit nur Bewohnbarkeit signalisiert. Florasdorf: Nachrichten aus Wiens Transdanubien.

28. September 2019 - Christian Kühn
Am Anfang war die Eisenbahn. Dort, wo heute die Nordbrücke die Donau quert, befand sich einst eine Trasse, die zum Bahnhof Jedlesee führte. Die Einstellung dieser Bahnlinie hinterließ eine Stadtbrache, einen dreieckigen Zwickel zwischen dem Autobahnzubringer zur Nordbrücke und der Prager Straße, der von beiden Verkehrsträgern intensiv beschallt wird.

Wenn die Stadt wächst und der Boden knapp wird, verwandeln sich auch solche Lagen in wertvolles Bauland. Eigentümer waren die ÖBB, die – wie es heute üblich ist – ihrer Stadtbrache einen klingenden Namen gaben: „Florasdorf – Stadt trifft Dorf“ lautete der Slogan, der mit dem Namen des Bezirks Floridsdorf spielte. Weil an diesem Ort aber so gar nichts „dörflich“ war, ergänzte man die Assoziationskette um die Begriffe „Anger“ und „Generationenwohnen“.

Der Bauträgerwettbewerb, der 2014 für das Areal ausgeschrieben wurde, baute auf diesen Ideen und einem städtebaulichen Konzept von Otto Häuselmayer auf. Vorgesehen war – als Schallschutz zur Autobahn – ein lang gestreckter, Nord-Süd gerichteter Baukörper, den einige Zeilenbauten im Westen zu einem aufgelockerten Superblock ergänzen sollten. Das Siegerprojekt im Bauträgerwettbewerb behielt den Nord-Süd gerichteten Baukörper bei, verdichtete das restliche Gebiet aber mit fünf frei stehenden „Stadtvillen“, die so angeordnet sind, dass sie einer zukünftigen Schließung des Superblocks Richtung Pragerstraße nicht im Weg stehen.

Diese Stadtvillen, geplant von Regina Freimüller-Söllinger, bieten gut brauchbare Wohnungen und großzügige Treppenhäuser mit viel Licht und Aufenthaltsqualität. Wenn Häuser tanzen könnten, wäre es hier der Twist: Einzelne Geschoße scheren aus dem rechten Winkel aus und drehen sich quasi aus der Fassade. Markant sind die holzverkleideten Loggien, von denen jeder Wohnung zumindest eine zugeordnet ist.

Der Entwurf für den lang gestreckten Baukörper stammt von Bernd Vlay und Lina Streeruwitz (StudioVlayStreeruwitz), die ihre Aufgabe vom Slogan der ÖBB her definierten: „Wie können wir innerstädtische Dichte an einem Ort zwischen Stadtautobahn und Einfahrtsstraße so entwerfen, dass der Slogan ,Stadt trifft Dorf‘ zur Substanz wird?“ Ihre Antwort besteht darin, den langen Riegel nicht als Stapelung identischer Geschoße zu entwickeln, sondern als Schichtung sehr unterschiedlicher Wohnformen. Im Erdgeschoß gibt es Kindergärten und andere Sozialeinrichtungen wie das Neunerhaus und den Verein GIN, in den beiden Stockwerken darüber kombinierbare Wohnungen für mehrere Generationen. In den Stockwerken drei bis fünf werden die Wohnungen durch einen Mittelgang erschlossen, der über Lichtschächte mit Tageslicht versorgt wird. Im Geschoß darüber wechselt das System: Hier gibt es ostseitig, also zur Autobahn hin, eine halböffentliche Ebene mit Gartenbeeten, die von den Architekten als „Anger“ bezeichnet wird.

Neben den Privatwohnungen liegen hier auch Wohngemeinschaften, die sich diesen Freiraum teilen. Die drei Ebenen darüber sind über Laubengänge erreichbar, von denen aus die Wohnungen mit Brücken erschlossen werden, die die Wohnfläche als vorgelagerte Terrassen erweitern. Aus der Kombination von Laubengängen und Erschließungsbrücken bilden sich dreigeschoßige Höfe, in die Pflanzen aus den Gartenbeeten emporranken.

Die gesamte Ostfassade interpretieren Vlay/Streeruwitz als vertikalen Garten, der quasi aus dem Umfeld nach oben geklappt wird. Dieses Umfeld war zu Planungsbeginn noch von einer dichten, wenn auch nicht hochwertigen Vegetation auf der Ostseite des Areals Richtung Autobahn geprägt, die die Architekten gern erhalten hätten. Die ausführende Baufirma entfernte aber nicht nur das Gebüsch, sondern auch die Bäume, was aus der Brache ein Brachland machte, das jetzt wieder aufgeforstet werden muss.

Dieser Verlust macht sich vor allem für die Bewohner bemerkbar, deren Wohnungen ostseitig liegen. Der Bebauungsplan hatte hier vorgesehen, dass sich keine Aufenthaltsräume in diese Richtung orientieren dürfen. Wenn man bedenkt, dass Verkehrsemissionen in den nächsten Jahren durch elektrische Antriebe drastisch zurückgehen werden und gute Häuser 100 und mehr Jahre überleben sollten, ist diese Vorgabe zumindest fragwürdig. Die Architekten entwickelten daher eine Fassade, die den Bebauungsplan sehr elastisch interpretiert: eine über zwei Meter tiefe Schichte aus Betonfertigteilen, die vor den ostseitigen Wohnungen so arrangiert sind, dass der direkte Blick auf die Autobahn weitgehend versperrt ist. Für die Maisonetten in den unteren Geschoßen entstehen dadurch abgeschirmte Höfe mit einer Terrasse auf dem unteren Niveau und kleinen Balkonen für die Schlafräume auf dem oberen.

Das Ergebnis dieser Anordnung ist eine leicht gekrümmte, sehr skulpturale Betonfassade, die wie ein Stück technische Infrastruktur aussieht. Ein horizontales, schmales Band aus Stahlblech, in dem sich Blumentröge befinden, markiert die Ebene des „Angers“. In den scheinbar darüber schwebenden massiven Betonquadern befinden sich Abstellräume für die Wohnungen der obersten Geschoße. Als Skulptur ist diese Fassade beeindruckend. Wohnlich ist sie bisher nicht, sondern bestenfalls „wohnbar“. Die Pflanztröge auf dem Anger sind aus Kostengründen mit Kies statt Erde gefüllt; hier wird nicht so bald etwas emporranken und das üppige Grün herzaubern, das sich auf den Zeichnungen der Architekten findet. Auch die Pflanzen in der Ostfassade haben den Sommer nicht gut überstanden. (Dass „Beton Brut“ in Kombination mit Farbe auch ohne Pflanzen lebendig wirkt, hätte man sich bei Le Corbusier abschauen können.) Immerhin konnten die Freiräume der Gesamtanlage nach einem Entwurf von Carla Lo ohne Abstriche realisiert werden, inklusive einem Glashaus, das der Verein GIN mit seinen Klienten bespielt. In der Aktivierung der Bewohner – nicht zuletzt beim Begrünen ihres Hauses – liegt der Schlüssel für den Erfolg des Projekts. Noch ein Jahr werden sie vom Büro Realitylab in dieser Hinsicht betreut. Dann bleibt zu hoffen, dass die Bewohner das Potenzial ihres Hauses erkannt haben und nutzen.

Eine erste Auszeichnung hat das Projekt kürzlich erhalten: Neben dem Gymnasium von Fasch & Fuchs in der Seestadt Aspern und dem Haus der Musik in Innsbruck von Strolz und Dietrich∣Untertrifaller ist es eines von drei österreichischen Projekten auf der Shortlist des renommierten Mies-van-der- Rohe-Preises.

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